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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Patientenorientierung bei multimorbiden Älteren – Ergebnisse einer Online-Delphi-Expertenbefragung

Meeting Abstract

  • Laura Kivelitz - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Hamburg, Germany
  • Manuela Kanat - Institut für Medizinische Biometrie und Statistik, Medizinische Fakultät/Universitätsklinikum Freiburg, Sektion Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung, Freiburg, Germany
  • Jonas Schäfer - Institut für Medizinische Biometrie und Statistik, Medizinische Fakultät/Universitätsklinikum Freiburg, Sektion Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung, Freiburg, Germany
  • Sebastian Voigt-Radloff - Medizinische Fakultät/Universitätsklinikum Freiburg, Institut für Evidenz in der Medizin (für Cochrane Deutschland Stiftung), Freiburg, Germany
  • Manuela Glattacker - Institut für Medizinische Biometrie und Statistik, Medizinische Fakultät/Universitätsklinikum Freiburg, Sektion Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung, Freiburg, Germany
  • Jörg Dirmaier - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Hamburg, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf124

doi: 10.3205/19dkvf124, urn:nbn:de:0183-19dkvf1246

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Kivelitz et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Patientenorientierte Versorgung fokussiert auf die Beteiligung von Patienten im Gesundheitswesen entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse und Präferenzen und ist gesundheitspolitisch sowie in der Versorgungsforschung von großer Relevanz. Dennoch führt die inkonsistente Definition und Verwendung des Konstrukts Patientenorientierung (PO) zu Unklarheiten bzgl. dessen Messung und der Beurteilung von Effektivitätsstudien, was letztlich die Umsetzung einer patientenorientierten Versorgung erschwert. Basierend auf einer systematischen Übersichtsarbeit zu in der Literatur verwendeten Definitionen wurde daher in der Hamburger Arbeitsgruppe ein integratives Modell der PO (Scholl et al., 2014) entwickelt, welches 15 Dimensionen (z.B. Patient als Individuum, Zugang zur Versorgung) umfasst.

Die Relevanz und Anwendbarkeit dieser Dimensionen auf spezifische Patientenpopulationen sind unklar. Da multimorbide ältere Patienten aufgrund ihrer häufig komplexen Problemlagen eine vorrangige Zielgruppe für patientenorientierte Maßnahmen darstellen, ist es das Ziel unserer Studie, das integrative Modell der PO für diese Patientengruppe zielgruppenspezifisch anzupassen. Hierfür werden eine Literaturrecherche, eine Expertenbefragung und eine Patientenbefragung durchgeführt.

Fragestellung: Ergänzend zum eingereichten Beitrag von Schäfer et al. zur Patientenbefragung soll hier untersucht werden, wie Experten aus verschiedenen Bereichen der patientenorientierten Versorgung älterer Menschen die Dimensionen des integrativen Modells der PO für die Zielgruppe bewerten.

Methode: Basierend auf einer Literaturrecherche zu spezifischen Aspekten von PO bei multimorbiden Älteren erfolgte eine erste geringfügige Adaption des integrativen Modells der PO (Hinzufügen der Dimension „Prognose und Lebenserwartung“). Im Anschluss wurde eine zwei-stufige online-Delphi-Befragung durchgeführt, zu der insgesamt n=242 Experten (Kliniker, Forscher, Qualitätsmanager und Patientenvertreter) eingeladen wurden. In der ersten Befragungsrunde wurden die Experten gebeten, sämtliche Dimensionen des Modells 1) hinsichtlich ihrer Relevanz und Klarheit auf einer 9-stufigen Ratingskala zu bewerten (Cut-off Kriterium für Einschluss einer Dimension: Median ≥ 7), 2) eine Priorisierung nach Wichtigkeit vorzunehmen und 3) optional zusätzliche zielgruppenspezifische Dimensionen zu nennen. In der zweiten Runde erfolgte eine individuelle Rückmeldung der Ratings aus der ersten Runde an die Experten und daraufhin eine erneute Bewertung der Dimensionen.

Ergebnisse: Es nahmen n=48 Experten (19.8%) an der 1. Runde und n=39 (81.3%) an der 2. Runde teil. Unter den n=39 Teilnehmern, die an beiden Runden teilnahmen, waren n=22 Kliniker, n=17 Forscher, n=5 Patientenvertreter und n=4 Qualitätsmanager. Hinsichtlich Relevanz und Klarheit erreichten 10 Dimensionen einen Median ≥ 7, vier Dimensionen hatten einen Median < 7 bezüglich Klarheit (z.B. Biopsychosoziale Perspektive, Empowerment des Patienten) und eine Dimension („Integration medizinischer und nicht-medizinischer Versorgung“) erreichte einen Median < 7 in beiden Kriterien und wurde daher ausgeschlossen. In Bezug auf die Priorisierung wurden folgende fünf Dimensionen als die wichtigsten bewertet: 1. Patient als Individuum, 2. Behandler-Patient-Kommunikation, 3. Patientenbeteiligung an Versorgungsprozessen 4. Physische und Emotionale Unterstützung 5. Beteiligung von Familienangehörigen und Freunden. Es wurde keine neue Dimension in das Modell aufgenommen, da die eher spezifischen Vorschläge bzgl. zu ergänzender Inhalte (z.B. Spiritualität) den bestehenden Dimensionen zugeordnet werden konnten.

Diskussion: Das integrative Modell der PO erscheint aus Expertensicht für die Zielgruppe multimorbider älterer Patienten geeignet. Die basierend auf der zielgruppenspezifischen Literaturrecherche hinzugefügte Dimension „Prognose und Lebenserwartung“ wurde hinsichtlich Relevanz und Klarheit aus Expertensicht verifiziert. Bis auf „Integration medizinischer und nicht-medizinischer Versorgung“ wurden alle Dimensionen als hinreichend relevant bewertet, wobei vier Dimensionen als nicht klar genug erschienen. Die offenen Expertenangaben wurden in die Operationalisierung der Dimensionen integriert (z.B. „Berücksichtigung von Belastungen durch die Behandlung“, was die Verbesserung der Klarheit der Dimensionen sowie die Berücksichtigung zielgruppenspezifischer Aspekte ermöglichte.

Praktische Implikationen: Das zielgruppenspezifisch adaptierte integrative Modell der PO, welches parallel auch aus der Patientenperspektive im Rahmen von Fokusgruppen mit multimorbiden Älteren bewertet wurde, bildet die Grundlage für ein systematisches Review zur Verfügbarkeit und Qualität von Messinstrumenten zu PO bei multimorbiden Älteren.