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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Die Behandlerperspektive zur gemeinsamen Entscheidungsfindung für Nierenersatzverfahren (CORETH-II-Projekt)

Meeting Abstract

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  • Anja Stoye - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Rehabilitationsmedizin, Halle (Saale), Germany
  • Julia Einert - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Rehabilitationsmedizin, Halle (Saale), Germany
  • Matthias Girndt - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin II (SP Nephrologie, Rheumatologie und Endokrinologie), Halle (Saale), Germany
  • Wilfried Mau - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Rehabilitationsmedizin, Halle (Saale), Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf110

doi: 10.3205/19dkvf110, urn:nbn:de:0183-19dkvf1101

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Stoye et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Die wachsende Anzahl vor allem älterer Dialysepatienten stellt eine Herausforderung für die Gesundheitsversorgung dar. Aufgrund der weitreichenden Konsequenzen für das Leben der Betroffenen sollte die Wahl der Nierenersatztherapie (Hämodialyse (HD), Peritonealdialyse (PD), Transplantation oder konservative Therapie) möglichst mit den Patienten abgestimmt werden („Shared Decision-Making (SDM)“). Durch eine informierte gemeinsame Entscheidungsfindung wird dem Patienten ermöglicht, ein gewisses Maß an Selbstmanagement, Adhärenz und Krankheitsbewältigung zu erreichen. Dies kann u. a. das Fortschreiten der Niereninsuffizienz verzögern, eine bessere Auswahl des Behandlungsverfahrens erleichtern oder die Bereitschaft zu Nierentransplantation erhöhen [1]. Eigene Forschungsergebnisse [2-3] zeigen jedoch, dass sich ein großer Teil der Patienten nicht ausreichend eingebunden fühlt. Die Behandlerperspektive zum SDM ist in diesem Kontext potenziell relevant, aber unzureichend untersucht.

Fragestellung: Daher widmet sich dieses Forschungsprojekt den folgenden Fragen: Wie bewerten NephrologInnen und nephrologische Pflegefachkräfte das SDM bei der Behandlungsentscheidung zwischen HD, PD oder Lebendspende-Nierentransplantation bei erwachsenen PatientInnen mit akutem Nierenversagen oder rascher Verschlechterung einer Niereninsuffizienz? Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um die Bereitschaft für SDM zu erhöhen?

Methode: Innerhalb der durch die Dr. Werner Jackstädt-Stiftung geförderten explorativen Studie werden in einer Querschnittserhebung insgesamt 40 leitfadengestützte, problemzentrierte Interviews zu SDM bei der Wahl des Nierenersatzverfahrens durchgeführt: N=20 ÄrztInnen, N=20 Pflegefachkräfte mit Schwerpunkt Nephrologie. Schwerpunkte sind dabei die Umsetzung von SDM, die persönliche Einschätzung hinsichtlich Nutzen, Hindernissen und Vorteilen sowie Lösungsansätze zur Optimierung von SDM. Die Datenauswertung erfolgt in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) unter Verwendung der Computer-Software zur qualitativen Datenanalyse MAXQDA 12.

Ergebnisse: Die Auswertung zeigt, dass der Prozess der informierten gemeinsamen Entscheidungsfindung dem medizinischen Fachpersonal entweder nicht bekannt ist oder sehr heterogen ausgelegt wird. Die häufigste Interpretation von SDM durch die Teilnehmer ist die Weitergabe von Informationen, auf deren Grundlage der Patient eine Entscheidung treffen soll. Dabei nutzen die Einrichtungen als Informationsmaterial vorrangig Broschüren, die überwiegend durch Pharmakonzerne bereitgestellt werden. Die häufigsten Probleme aus Sicht des nephrologischen Fachpersonals bei der Umsetzung von SDM sind mangelnde Zeit und unzureichende Vergütung im Gesundheitssystem. Außerdem empfinden einige Teilnehmer SDM als Überforderung der Patienten. Die geringe Berücksichtigung der PD in der Ausbildung wird ebenfalls als Hindernis für ein gelungenes SDM benannt. Die Wahl des Nierenersatzverfahrens hängt dadurch stark von der Präferenz der Ärzte ab. Lösungsansätze sehen die Teilnehmer in der Finanzierung von entsprechend ausgebildeten Pflegekräften und in vergüteten Spezialsprechstunden. Weiterhin kann die Etablierung struktureller Vernetzungen zwischen verschiedenen Professionen im Versorgungsbereich (interprofessionelles Team), insbesondere die stärkere Einbindung der Pflegefachkräfte, zu einem besseren Gelingen des Entscheidungsprozesses beitragen. Wesentlich ist die inhaltliche Anpassung der nephrologischen Aus-, Fort- und Weiterbildung mit stärkerer Einbeziehung der PD. Benannt wird auch die Stärkung der Selbsthilfe bei gleichzeitig verstärkter Motivierung der Patienten, diese Hilfe anzunehmen.

Schlussfolgerung: In den Interviews wurden folgende Handlungsbedarfe für die verstärkte Anwendung und Optimierung des SDM bei der Wahl des Nierenersatzverfahrens identifiziert: Einbindung in die Aus-, Fort- und Weiterbildung mit stärkerem Fokus auf PD; konsequente Umsetzung des SDM-Konzepts; verstärkte Einbindung der Pflegefachkräfte.

Praktische Implikation: Curricula sind bezüglich einer verstärkten Berücksichtigung der PD und Nierentransplantation an den Ausbildungsstätten zu überprüfen bzw. anzupassen. Es erscheint sinnvoll, im interprofessionellen Setting und mit stufenweisem Vorgehen die Präferenz der Patienten und der nahestehenden Personen bzgl. der Einbeziehung in den Entscheidungsprozess zu erfassen und umzusetzen. Zur Realisierung dieses Vorgehens sind Wege zur angemessenen Leistungsvergütung erforderlich.