gms | German Medical Science

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Implementierung von Videokonsultationen in Justizvollzugsanstalten im Rahmen eines telemedizinischen Modellprojekts in Baden-Württemberg – qualitative Ergebnisse der begleitenden Prozessevaluation

Meeting Abstract

Suche in Medline nach

  • Miriam Colombo - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung, Tübingen, Germany
  • Roland Koch - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung, Tübingen, Germany
  • Stefanie Joos - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung, Tübingen, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf068

doi: 10.3205/19dkvf068, urn:nbn:de:0183-19dkvf0688

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Colombo et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: Telemedizin gewinnt in vielen medizinischen Fachbereichen an Bedeutung und bietet besonders für vulnerable Gruppen, wie zum Beispiel Patienten/Patientinnen in Justizvollzugsanstalten (JVA), Chancen auf eine verbesserte medizinische Versorgung. Seit Aufhebung des Fernbehandlungsverbots in Baden-Württemberg wurden erstmals Videokonsultationen in fünf JVA im Rahmen eines Modellprojekts angeboten. Für die Evaluation des Modellprojekts wurde ein gemischt-methodischer Ansatz mittels Fragebögen und Interviews gewählt. Während die Fragebögen eher Struktur- und Prozessmerkmale abbilden, zielen die leitfadengestützten Interviews auf Einstellungen, Erwartungen und Erfahrungen ab. Dieser Beitrag befasst sich mit den qualitativen Interviews.

Fragestellung: Wie beurteilen die an den Videokonsultationen beteiligten Akteure (Pflegekräfte, Videoärzte/-ärztinnen) den Implementierungsprozess? Wie erleben Patienten/Patientinnen in den JVA die Videokonsultationen?

Methoden: Die Einstellung der Pflegekräfte und Videoärzte/–ärztinnen sowie der Patienten/Patientinnen in den fünf JVA wurde mittels leitfadengestützter Interviews erfasst und im Anschluss transkribiert. Mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring wurden Haupt- und Unterkategorien herausgearbeitet. Hierfür wurden beispielhaft drei Transkripte von jeder Personengruppe ausgewählt. Die Transkripte wurden von zwei Autoren/Autorinnen in eigenständige Text- bzw. Sinneinheiten unterteilt und in thematisch ähnlichen Einheiten gruppiert. Diese gebildeten Unterkategorien wurden dann unter einer Hauptkategorie zusammengefasst. Hierauf aufbauend wurden anhand dieses Systems aus Haupt- und Unterkategorien drei weitere Transkripte mit der Software MAXQDA 2018 von beiden Autoren/Autorinnen unabhängig voneinander codiert. Unterschiede in der Codierung wurden daraufhin diskutiert und flossen in ein Konsensus-Kategoriensystem ein. Dieses diente dann als Grundlage für die Codierung aller Transkripte. Somit entstand für jede Personengruppe ein eigenes System aus Haupt- und Unterkategorien, welches den Inhalt der Transkripte systematisch darstellt und zusammenfasst.

Vorläufige Ergebnisse: Insgesamt konnten 23 Interviews geführt werden, davon neun mit Strafgefangenen, zwölf mit Pflegekräften und zwei mit Videoärzten/-ärztinnen. Für die Patienten/Patientinnen in den JVA konnten im Rahmen der Inhaltsanalyse die Hauptkategorien „Medizinische Versorgung in der JVA“, „Sicherheit der Videokonsultationen“, „Intimität/allein sein während den Videokonsultationen“, „Wahrnehmung der Videokonsultationen“ und „Prozess der Videokonsultationen“ herausgearbeitet werden. Dabei erlebten die Befragten die Videokonsultationen in vielen Punkten gleichwertig zu einer regulären Behandlung, auch wenn sie letztere vorziehen würden. Einige sahen die Videokonsultationen auch als Chance, alleine mit einem Arzt oder einer Ärztin zu sprechen. Aus den Interviews mit Pflegekräften und Videoärzten/-ärztinnen ergaben sich die Hauptkategorien „Medizinische Versorgung in der JVA“, „Implementierung/Umsetzung der Videokonsultationen“, „Prozess der Videokonsultationen“, „Interaktion/Rollen“, „Bewertung des Modellprojekts“. Aus den Interviews zeigt sich deutlich, dass Videokonsultationen in JVA eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Ärzten/Ärztinnen und den Pflegekräften mit spezifischen Herausforderungen im Sinne interprofessioneller Kommunikation und Kooperation erfordern. In einem weiteren Schritt soll im Sinne einer Triangulation von Datenquellen ein Vergleich der Kategoriensysteme stattfinden. Hieraus können die jeweiligen Perspektiven von sowohl Anbietern als auch Nutzern als Grundlage für die weitere Diskussion dienen. Auf dem Kongress werden die finalen Ergebnisse der Inhaltsanalyse und daraus resultierende Handlungsempfehlungen für die zukünftige Implementierung vorgestellt.

Vorläufige Diskussion: Videokonsultationen sind als Ergänzung zur bestehenden medizinischen Versorgung in JVA implementierbar. Sie werden sowohl von Pflegekräften und Videoärzten/-ärztinnen als auch von Patienten/Patientinnen in JVA überwiegend positiv beurteilt. Die Einbindung von qualitativen Interviews ermöglicht es, die Implementierungsprozesse sehr detailliert aus mehreren Perspektiven zu erfassen, was bei einer innovativen Versorgungsform mit der Fragestellung einer späteren Breitenimplementierung wie im vorliegenden Fall hochrelevant ist.

Praktische Implikationen: Die Ergänzung der medizinischen Versorgung in JVA mittels Videokonsultationen wurde von den Beteiligten überwiegend gut angenommen. Für eine erfolgreiche Breitenimplementierung sollte insbesondere die neue Form der interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Pflegekräften und (Video)Ärzten/Ärztinnen berücksichtigt werden. Da die Prozesse (neue Arbeitsform, unterschiedliche strukturelle sowie personelle Herausforderungen) sehr vielschichtig sind, bietet sich auch für die weitere Implementierung eine gemischt-methodische Prozessevaluation an.