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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Leitlinien im Versorgungsalltag: Ergebnisse einer Evaluation im Mixed-Methods-Design

Meeting Abstract

  • Sabine Schwarz - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Patienteninformation, Berlin, Germany
  • Corinna Schaefer - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Evidenzbasierte Medizin und Leitlinien und Patienteninformation, Berlin, Germany
  • Susanne Gabriele Schorr - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Evidenzbasierte Medizin und Leitlinien, Berlin, Germany
  • Inga König - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Patienteninformation, Berlin, Germany
  • Claudia Schumacher - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Patienteninformation, Berlin, Germany
  • Katrin Krüger - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Evidenzbasierte Medizin und Leitlinien, Berlin, Germany
  • Christian Thomeczek - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Stabsstelle Patientensicherheit, Berlin, Germany
  • Martin Härter - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), Wissenschaftlicher Beirat, Berlin, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf061

doi: 10.3205/19dkvf061, urn:nbn:de:0183-19dkvf0614

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Schwarz et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Gute Leitlinien geben Empfehlungen, welche diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen für Patienten infrage kommen. Sie zielen darauf ab, Entscheidungen in der medizinischen Versorgung auf eine rationalere Basis zu stellen und die Stellung des Patienten als Partner im Entscheidungsprozess zu stärken. Der Gebrauch von Leitlinien im Behandlungsalltag kann jedoch schwierig sein: Beispielsweise sind Leitlinien unbekannt oder die vorhandenen Angebote nicht zielgruppengerecht. Daher soll diese Evaluation Hinweise zu ihrer Bekanntheit und Anwendbarkeit liefern. Im Fokus steht dabei das Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien (NVL). Dafür entwickeln Expertengruppen nach höchsten methodischen Standards Leitlinien zu häufigen Krankheiten. Diese NVL sind in verschiedenen Formaten frei verfügbar, wie Langfassung, Kurzfassung oder Patienteninformation.

Fragestellung: Welche Rolle spielen Leitlinien für den Versorgungsalltag? Wo informieren sich Ärzte und Therapeuten? Wie bekannt und praxistauglich sind die Angebote aus dem NVL-Programm?

Methode: Die Evaluation erfolgte mit einem Mixed-Methods-Design. Die gesamte Datenerhebung fand von Juli bis Oktober 2018 statt. Sie richtete sich an Ärzte und Psychotherapeuten. Zuerst erfolgte eine breit gestreute Online-Umfrage mit einem eigens konzipierten Fragebogen. Dieser diente dazu, allgemeine Informationen zur Leitlinienanwendung und zum NVL-Programm zu erfassen sowie interessierte Personen für Einzelinterviews zu gewinnen. Die Umfragedaten wurden deskriptiv ausgewertet. Anschließend wurden in leitfadengestützten Telefoninterviews vertiefende Erkenntnisse zur Praktikabilität der NVL zu Kreuzschmerz, Herzinsuffizienz und zur unipolaren Depression gewonnen. Dafür bekamen die Teilnehmenden im Vorfeld eine NVL in allen Formaten. Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet.

Ergebnisse: Von den 667 Umfrage-Teilnehmenden füllten 558 den Fragebogen vollständig aus. Die Mehrzahl war männlich (61%) und über 40 Jahre alt (78%). Am häufigsten waren Ärzte (85%), ambulant Tätige (48%) und Großstädter (51%) vertreten. 93% der Befragten gaben an, dass sie Leitlinien verwenden. Davon schätzen nur knapp ein Viertel Leitlinien als teils oder kaum hilfreich ein. 41 Personen nutzen keine Leitlinien. Als Gründe nennen sie, dass nutzerfreundliche Formate fehlen (29%), Informationen in den Leitlinien nicht zu finden sind (27%) sowie die Dokumente unverständlich oder zu lang sind (24%). Über neue Studienergebnisse informieren sich die Befragten in Fachpublikationen (78%) und in Fort- und Weiterbildungen (75%). Leitlinien als Quelle nennen 41%. 80% nutzen Patienteninformationen. Diese wählen sie nach Verständlichkeit (66%), Evidenzbasierung (58%) und kostenlose Verfügbarkeit (49%) aus.

64% der Befragten kennen das NVL-Programm. Davon sind viele über Fachgesellschaften oder Berufsverbände (30%) darauf aufmerksam geworden. Diejenigen, denen das NVL-Programm bekannt ist, kennen und nutzen meist eine NVL-Langfassung (bekannt 86%, genutzt 78%) oder NVL-Kurzfassung (bekannt 93%, genutzt 87%). Die Patienteninformationen sind weniger verbreitet (54%) und angewandt (59%).

Von den 47 geführten Interviews sind 21 analysiert (Stand 15. April 2019). Die Interviewten waren zu 48% weiblich und durchschnittlich 44 Jahre alt. 76% haben die zugeschickte NVL-Langfassung genutzt oder können sich die Anwendung vorstellen. Sie wird bei spezifischen Fragestellungen oder für Hintergrundwissen gelesen. Bevorzugt wird von vielen jedoch die Kurzfassung. Über 70% halten sie für hilfreich. Allerdings wird sie als zu lang bewertet. Besonders Algorithmen, Checkboxen und Empfehlungen sind in der Kurzfassung gewünscht. Auch den NVL-Patienteninformationen wird eine Bedeutung zugemessen: So halten 81% die Patientenleitlinie für interessierte Patienten als geeignet und 67% würden sie empfehlen. Angegebene Barrieren sind der Umfang, die Leitlinieninhalte und eine mangelnde Gesundheitskompetenz. Den Äußerungen nach sollten Patienteninformationen auf Patientenportalen, bei Fachgesellschaften oder bei der Ärztlichen Selbstverwaltung zu finden sein.

Diskussion: Die hohe Teilnahmebereitschaft und die Ergebnisse lassen auf ein Interesse an Leitlinien schließen. Zudem liefert diese Evaluation erstmals Erkenntnisse über die Akzeptanz und Praxistauglichkeit eines der größten Leitlinienprogramme in Deutschland: Die meisten Befragten bewerten die NVL positiv. Dennoch besteht Verbesserungsbedarf, z. B. für die Kurzfassung und bei der Verbreitung der Patienteninformationen. Eine Limitation ist eine Teilnehmerselektion. Zudem sollten in weiteren Projekten Patientenvertreter und Angehörige anderer Gesundheitsberufe befragt werden.

Praktische Implikationen: Leitlinien haben eine große Bedeutung im praktischen Versorgungsalltag. Die Evaluation gibt Impulse für die Weiterentwicklung der NVL-Formate, um allen Nutzerbedürfnissen gerecht zu werden und deren Anwendung zu vereinfachen.