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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Fortgesetzte Therapie am Lebensende bei Krebspatienten aus Sicht der Angehörigen – Häufigkeit und Entscheidungsfindung

Meeting Abstract

  • Mariell Hoffmann - Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Germany
  • Anette Jacobi - Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Germany
  • Mechthild Hartmann - Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Germany
  • Nikolaus Becker - Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg, Germany
  • Wolfgang Herzog - Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Germany
  • Markus W. Haun - Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV195

doi: 10.3205/17dkvf155, urn:nbn:de:0183-17dkvf1554

Veröffentlicht: 26. September 2017

© 2017 Hoffmann et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: In der Versorgung von Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen zeigt sich in den letzten Jahren der Trend, dass zunehmend auch noch in den letzten Lebenswochen an aggressiven Therapieregimen (aggressiveness of care, AOC) festgehalten wird. Dieser Entwicklung stehen Befunde gegenüber, dass die Fortsetzung von Chemotherapie in den letzten Lebenswochen häufig keine signifikante Verlängerung der Lebenszeit beinhaltet, die Hoffnung darauf jedoch patientenseitig oftmals die Hauptmotivation darstellt. Patienten, die eine lebensverlängernde Behandlung ablehnen, sind weniger physisch und psychisch belastet, und ihre Angehörigen empfinden zumindest in der letzten Lebenswoche eine höhere Lebensqualität. Deren Einstellungen und Bedürfnisse sind bedeutende Einflussfaktoren bei den entsprechenden Entscheidungsprozessen. Der Einbezug von Angehörigen in den Entscheidungsprozess der Behandlung geht dabei häufiger mit einer Präferenz zugunsten der Verlängerung der Lebenszeit um jeden Preis einher.

Fragestellung: Da AOC aus Sicht der Angehörigen in Deutschland wenig untersucht ist, soll die explorative Studie 1) erste Eindrücke zur Häufigkeit aus Sicht betroffener Angehöriger geben, sowie 2) anhand qualitativer Daten Kontextbedingungen und versorgungspraktisch relevante Entscheidungsabläufe im Rahmen von AOC aus Angehörigensicht eingehender beschreiben. Vor allem aber kennzeichnend für Versorgungsforschung sollen 3) die Prozessqualität von Therapie am Lebensende sowie Rahmenbedingungen der Routineversorgung beschrieben werden.

Methode: Es wurde eine querschnittliche mixed method Studie durchgeführt. In einem ersten Schritt wurden Hinterbliebene zu dem Vorliegen der AOC Kriterien in den letzten vier Lebenswochen befragt. In einem zweiten Schritt wurden die Fragebogendaten mit den Daten aus 14 Einzelinterviews angereichert. Eingeschlossen wurden Hinterbliebene von Patienten mit Darm-, Pankreas-, Lunge-, Brust- und Prostatakrebs, die innerhalb des Jahres 2014 an einem Zentrum der Maximalversorgung behandelt wurden. Die Studienteilnehmer wurden in Einzelinterviews zu ihren Werten und Präferenzen und ihren subjektiven Erfahrungen bzgl. der Versorgung der verstorbenen Patienten am Lebensende befragt. Die Auswertung erfolgte mittels einer Thematischen Analyse mithilfe von MAXQDA. Dabei wurde induktiv ein Kategoriensystem entwickelt, um latente und semantische Muster der Behandlungssituation in dem Entscheidungsfindungsprozess aus Sicht der Angehörigen zu explorieren.

Ergebnisse: In der Befragung gaben die Angehörigen an, dass einer von vier Patienten eine AOC-Therapie erhielt (N = 304, Rücklaufrate von 46,8%). Die qualitativen Daten zeigen, dass AOC-Therapien wahrscheinlich nicht durch die Angehörigen beeinflusst werden und sie wenig Einfluss auf den Patienten ausüben, eine bestimmte Option zu wählen. Nicht-AOC Verläufe sind vor allem durch eine eigenständige, aktive, weitestgehend unabhängig vom Angehörigen getroffene Entscheidung des Patienten charakterisiert. Dies ist von den Angehörigen schwer zu verarbeiten, diese möchten eher in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Sterben und Tod wird generell als gesellschaftliches Tabu erlebt.

Diskussion: Unserem besten Wissen nach sind dies die ersten veröffentlichten Daten hinsichtlich der Häufigkeit aggressiver Therapien bei Krebspatienten in Deutschland. Die Ergebnisse zeigen, dass während der letzten Lebenstage einer von vier Patienten eine AOC-Therapie erhält, die in Bezug auf ein längeres Überleben oder einer Verbesserung der Lebensqualität fragwürdig ist. Da es sich um eine Querschnittsstudie handelt, sind keine Kausalschlüsse möglich. Die Repräsentativität der qualitativen Daten ist auf die untersuchte Stichprobe begrenzt, die an einem Zentrum der Maximalversorgung behandelt wurde.

Praktische Implikationen: Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein Großteil der Krebspatienten eine intensive Behandlung am Ende des Lebens erhält. Es gilt in Folgestudien die Prävalenz von AOC für eine breitere Population von Krebspatienten und Behandlungsstandorten sowie mögliche Einflussfaktoren zu AOC-Therapien innerhalb des Krankheitsverlaufs zu klären. Konkret würde sich für anschließende Forschungsarbeiten zum Thema eine teilnehmende Beobachtung im Rahmen einer prospektive Längsschnittstudie unter der Berücksichtigung von Patienten in unterschiedlichen Behandlungskontexten und einer zufälligen Stichprobenauswahl empfehlen, die eine Gesamtbetrachtung der Entscheidungsprozesse in vivo und unter Berücksichtigung aller Akteure ermöglicht.