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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Nutzenbewertung der Adipositas-Chirurgie: Patientenrelevante Endpunkte und methodische Besonderheiten der Datenanalyse

Meeting Abstract

  • Kerstin Lipperheide - Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS), Essen, Germany
  • Annegret Herrmann-Frank - Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS), Essen, Germany
  • Sandra Janatzek - Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS), Essen, Germany
  • Michael Werner - Sozialmedizinischer Dienst Knappschaft Bahn See, Essen, Essen, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV003

doi: 10.3205/17dkvf106, urn:nbn:de:0183-17dkvf1067

Veröffentlicht: 26. September 2017

© 2017 Lipperheide et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: In der aktuellen S3-Leitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas” [1] werden in Abhängigkeit vom Adipositas-Grad und assoziierten Komorbiditäten Empfehlungen für/wider einen adipositaschirurgischen Eingriff formuliert. Diese Empfehlungen basieren auf einem niedrigen Evidenzgrad. Deshalb wurde eine Bewertung der aktuellen Datenlage zum Vergleich der Adipositas-Chirurgie mit der konservativen Adipositastherapie angeregt.

Fragestellung: Ziel der Nutzenbewertung war der o.g. Vergleich. Besondere methodische Herausforderungen stellten die Einordung der Patientenrelevanz der klinischen Endpunkte sowie die Einordnung schwerwiegender unerwünschter Ereignisse (SUE) dar. Darüber hinaus zeichneten sich die Studien durch hohe Drop-out-Raten aus. Vorgestellt und diskutiert werden soll die methodische Vorgehensweise bei ausgewählten Endpunkten und die daraus resultierende Einordnung der Ergebnisse.

Methode: Es wurde eine systematische Bewertung der Evidenzlage auf Grundlage von Primärstudien (RCT) vorgenommen. Als Basis dienten relevante Studien aus dem Cochrane-Review zur Adipositas-Chirurgie von Colquitt 2014 [2]. Zusätzlich erfolgte eine systematische Recherche nach aktuellen RCTs.

Veränderungen von Gewicht/BMI sind relevante Endpunkte für die Beurteilung eines Verfahrens, bei dem die Gewichtsreduktion zu den wesentlichen Therapiezielen zählt. Sie werden allerdings als Surrogat eingestuft, da sich die Patientenrelevanz des Verfahrens in der Verbesserung des klinischen Bildes der Komorbiditäten manifestiert. Als patientenrelevant wurden Endpunkte wie Lebensqualität, Absetzen der Medikation, SUE und z.B. bei Diabetes mellitus-Patienten die Endpunkte Diabetes-Remission und Diabetes-Spätkomplikationen eingestuft.

Ergebnisse: Es wurden 10 Studien identifiziert, in allen Studien waren Patienten mit Komorbiditäten eingeschlossen (1 Studie zu allgemeinen adipositasassoziierten Komorbiditäten, 7 Studien zu Typ-2-DM, 2 Studien zur OSA). Die meisten Studien lieferten kurzfristige (1-2-Jahres-Daten), weniger als die Hälfte der Studien mittelfristige Daten (3-5-Jahres-Daten). 5-Jahres-Daten liegen bislang nur aus 2 Studien vor.

Für die Surrogat-Endpunkte Gewicht/BMI ließen sich kurz- und mittelfristig große statistisch signifikante Vorteile der Adipositas-Chirurgie ableiten. Für den patientenrelevanten Endpunkt partielle Diabetes-Remission zeigte sich in den kurzfristigen Daten ein statistisch signifikanter Vorteil zugunsten der Adipositas-Chirurgie. Der Effekt blieb im Verlauf - allerdings mit teilweise deutlich rückläufiger Remissions-Rate im chirurgischen Behandlungsarm in den einzelnen Studien - erhalten. Wegen hoher drop-out-Raten besonders in den mittelfristigen Daten wurden zur Überprüfung der Robustheit der Daten Worst-case-Szenarien zuungunsten der Adipositas-Chirurgie berechnet. Hierbei zeigte sich für die mittelfristigen Daten zum Endpunkt partielle Diabetes-Remission kein statistisch signifikanter Vorteil mehr für die Adipositas-Chirurgie. Hohe drop-out-Raten fallen insbesondere bei relativ kleinen Fallzahlen (hier 20-50 Patienten/Behandlungsarm in einzelnen Studien) ins Gewicht.

Aus methodischen Gründen wurden die Ergebnisse zu SUE einer rein qualitativen Betrachtungsweise unterzogen. Wegen der Heterogenität der Daten – u.a. erfolgte in Studien teilweise keine Graduierung in SUE/UE; in Studien mit durchgeführter Graduierung konnte die Einordnung als SUE/UE teilweise inhaltlich nicht nachvollzogen werden, häufig auch aufgrund einer nicht ausreichend detaillierten Darstellung in den Publikationen - war es notwendig, eine eigene Einordnung von SUE vorzunehmen (orientiert an Brethauer 2015 [3]). Im Ergebnis zeigte sich in der überwiegenden Zahl der Studien ein gehäuftes Auftreten von SUE zuungunsten der Adipositas-Chirurgie.

Diskussion: In Studienpublikationen und (Leitlinien-)Empfehlungen werden häufig die Vorteile der Adipositas-Chirurgie mit Betonung der großen Effekte bei Gewicht und Diabetes herausgestellt. Die vorliegende Nutzenbewertung konnte diese Effekte teilweise bestätigen, allerdings wurde der Endpunkt Gewicht als Surrogat eingestuft. Für den Endpunkt partielle Diabetes-Remission zeigte sich kurzfristig ein Vorteil zugunsten der Adipositas-Chirurgie. Der Effekt blieb mittelfristig zwar erhalten, das Ergebnis ist allerdings nicht als robust anzusehen. Zu thematisieren wäre daher die Patientenrelevanz der in den Studien am häufigsten verwendeten Endpunkte sowie die möglicherweise eingeschränkte Aussagekraft der Daten bei Vorliegen hoher drop-out-Zahlen.

Praktische Implikationen: Publikationen zur Adipositas-Chirurgie sollten beachten:

  • Klare Unterscheidung in patientenrelevante und Surrogat-Endpunkte
  • Klare Graduierung von unerwünschten Ereignissen in SUE bzw. UE
  • Diskussion der Aussagekraft von Daten bei hohen drop-out-Zahlen

Literatur

1.
DAG, et al. AWMF-Register Nr. 050/001. 2014
2.
Colquitt, et al. Cochrane Database Syst Rev. 2014; 8: CD003641
3.
Brethauer, et al. Obes Surg. 2015; 25 (4): 587-606