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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Der Gebrauch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln im Krankenhaus – Ergebnisse einer Patientenbefragung

Meeting Abstract

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  • Stephanie Heinemann - Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Germany
  • Freya Neukirchen - Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Germany
  • Roland Nau - Evangelisches Krankenhaus Göttingen-Weende GmbH, Göttingen, Germany
  • Wolfgang Himmel - Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV211

doi: 10.3205/17dkvf056, urn:nbn:de:0183-17dkvf0560

Veröffentlicht: 26. September 2017

© 2017 Heinemann et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: Schlaf- und Beruhigungsmittel gehören zu den am häufigsten eingesetzten Medikamenten im Krankenhaus. Oft handelt es sich dabei um Medikamente aus der Gruppe der Hypnotika und Sedativa, z. B. Benzodiazepine. Somit lernen Patienten in der Akutsituation im Krankenhaus stark wirksame Medikamente kennen, die bekannte Risiken, wie Stürze, kognitive Beeinträchtigungen, erhöhte Unfallneigung und ein hohes Suchtpotential haben. Das gilt besonders für ältere Patienten. Bisher wissen wir wenig darüber, wie ältere Patienten den Gebrauch von Schlaf- und Beruhigungsmittel im Krankenhaus erleben, ob die Einnahme der Medikamente im Krankenhaus verlässlich dokumentiert wird und ob der Gebrauch der Medikamente im Krankenhaus den Wunsch nach Weitereinnahme im häuslichen Bereich nach sich zieht.

Fragestellung: Welche Erfahrungen mit Schlaf- und Beruhigungsmittel machen ältere Krankenhauspatienten? Wie viele der älteren Patienten, die glaubten Schlaf- und Beruhigungsmittel erhalten zu haben, haben laut Krankenakte Schlaf- und Beruhigungsmittel erhalten? Wünschen Patienten, die im Krankenhaus Schlaf- und Beruhigungsmittel erhalten haben, diese Medikamente auch nach der Krankenhausentlassung weiter einzunehmen?

Methode: Ältere Patienten (> 65 Jahre) eines Krankenhauses der Grund- und Regelversorgung mit ca. 500 Betten wurden prospektiv über sechs Monate zur Studienteilnahme rekrutiert. Sie wurden ein bis zwei Tage vor der Entlassung mit einem standardisierten Fragebogen befragt. Im Fragebogen ging es um (1) die Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmittel vor dem stationären Aufenthalt, (2) Erfahrungen mit Schlaf- und Beruhigungsmittel während des Krankenhausaufenthaltes und (3) den Wunsch nach Weitereinnahme nach Krankenhausentlassung. Zusätzlich wurden die verordneten Schlaf- und Beruhigungsmittel laut Patientenakte erfasst. Die Daten wurden zunächst deskriptiv ausgewertet. Die Übereinstimmung zwischen Patientenangaben und Krankenhausdokumentation wurde mittels Cohen´s Kappa geprüft. Anschließend wurde der Einfluss verschiedener Faktoren auf den Wunsch der Weitereinnahme von Schlaf- oder Beruhigungsmitteln nach Krankenhausaufenthalt in einem multivariablen Regressionsmodell bestimmt – mit Odds Ratios und ihren 95%-Konfidenzintervallen als Effektgrößen.

Ergebnisse: Knapp 20% (89/508) der befragten Patienten hatten vor dem stationären Aufenthalt bereits Erfahrungen mit Schlaf- und Beruhigungsmittel zu Hause gemacht, häufiger Frauen als Männer (24,3% vs. 8,3%). Während des Krankenhausaufenthaltes hat fast die Hälfte der befragten Patienten (227/493) – laut eigener Aussage – mindestens einmal ein Schlaf- oder Beruhigungsmittel erhalten. Die Übereinstimmung zwischen Patientenaussagen aus der Befragung und Krankenhausdokumentation war mit knapp 85% sehr hoch (Cohen’s Kappa: 0,70). Für knapp zwei Drittel der Patienten, die ein Schlaf- und Beruhigungsmittel im Krankenhaus erhalten haben (148/227), war dies ihre erste Verordnung eines solchen Medikaments. Laut Akte hatten knapp 20% (100/508) ein Benzodiazepin erhalten, seltener Baldrianpräparate (16,7 %), Mirtazapin (12,2 %) und Z-Substanzen (11,2 %). Gut ein Drittel (85/227) der Patienten wünschte eine Weitereinnahme der stationär verordneten Medikamente. Bei Z-Substanzen war der Wunsch nach Wiedereinnahme besonders hoch (51%); aber auch bei Benzodiazepinen wünschte noch mehr als ein Viertel der Patienten eine Weitereinnahme zu Hause. Die Wahrnehmung von Verbesserungen in der Schlafqualität durch die eingenommenen Schlafmittel hatte erheblichen Einfluss auf den Wunsch der Weitereinnahme (adjustiertes Odds Ratio 10,23; 95 %-Konfidenzintervall: 2,12 - 49,28).

Diskussion: Fast jeder zweite ältere Patient erhält im Krankenhaus mindestens einmal ein Schlaf- und Beruhigungsmittel. Viele Patienten wünschen eine Fortführung der Einnahme nach der Entlassung, auch wenn es sich dabei um Präparate mit bekanntem Suchtpotential (z.B. Benzodiazepine und Z-Substanzen) handelt. Diese Medikamente helfen oft wirkungsvoll bei Ein- und Durchschlafproblemen in der unbekannten Krankenhausumgebung; genau diese positive Wirkung motiviert aber den problematischen Wunsch nach Weiterverordnung in der häuslichen Umgebung.

Praktische Implikationen: Schlafprobleme im Krankenhaus sollten – soweit sie das übliche Maß nicht überschreiten – kein Anlass zur Gabe von Hypnotika und Sedativa sein. Selbst bei Einmalgaben sollte das Risiko von Frakturen durch Stürze während des Krankenhausaufenthaltes sowie das Risiko von Abhängigkeit nach Entlassung nicht unterschätzt werden. Das ärztliche und pflegerische Personal sollte gemeinsam eine Handlungsstrategie überlegen und verbindlich vereinbaren, wie Patienten im Falle von Schlafproblemen mit nicht-pharmakologischen Alternativen versorgt werden, damit Medikamente nur in letzter Instanz verordnet werden.