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16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

4. - 6. Oktober 2017, Berlin

Analyse steigender Fallzahlen in der ambulanten Notfallversorgung anhand von Abrechnungsdaten der KBV

Meeting Abstract

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  • Philip Wahlster - Universität des Saarlandes, Homburg, Germany
  • Thomas Czihal - Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi), Berlin, Germany
  • Bernhard Gibis - Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Berlin, Germany
  • Cornelia Henschke - Technische Universität Berlin, Berlin, Germany

16. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 04.-06.10.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV152

doi: 10.3205/17dkvf032, urn:nbn:de:0183-17dkvf0328

Veröffentlicht: 26. September 2017

© 2017 Wahlster et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Die Notfallversorgung ist oftmals erste Anlaufstelle bei der Versorgung nicht nur kritisch erkrankter Patienten außerhalb der regulären Sprechzeiten. In diesem Kontext sieht sich auch Deutschland mit steigenden Fallzahlen konfrontiert, welche die Versorgungsstrukturen an ihre Belastungsgrenzen bringen. Der demographische Wandel, ein verändertes Patientenverhalten und Fehlanreize in den Vergütungsmechanismen der Leistungserbringer wurden bereits als potentielle Ursachen identifiziert. Die Notfallambulanzen beklagen eine Zunahme der nicht dringlichen Fälle, welche oftmals zu ambulanten, aus Krankhaussicht nicht-kostendeckenden Behandlungen führen.

Fragestellung: Ausgehend von der Hypothese, dass es subgruppen- und indikationsspezifische Unterschiede in der Inanspruchnahme des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes und der Notfallambulanzen der Krankenhäuser gibt, werden folgende Fragestellungen untersucht: (1) Welche zeitlichen Veränderungen der Patientencharakteristika und des Indikationsspektrums gibt es in der Notfallversorgung? (2) Welche Faktoren sind mit Inanspruchnahme der ambulanten Notfallversorgung assoziiert?

Methode: Mittels Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) wurden Veränderungen des Indikationsspektrums der ambulanten Notfallbehandlungen durch den kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes und die Notfallambulanzen der Krankenhäuser zwischen 2009 und 2015 deskriptiv analysiert (Datensatz mit insgesamt ca. 130 Millionen Fällen). Zur empirischen Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Inanspruchnahme der Notfallversorgung und sozioregionalen Variablen (bspw. Urbanitätsindex, Hausarztdichte) wurden externe Variablen mit dem Datensatz verknüpft und mittels eines linearen generalisierten Regressionsmodells ausgewertet.

Ergebnisse: Jeweils ausgehend vom Basisjahr 2009, steigen die Notfallzahlen bis 2015 sektorenübergreifend auf 104%, in den Notfallambulanzen auf 142%. Besonders deutlich ist dieser Anstieg in den Notfallambulanzen im Jahr 2013 von 121% (2012) auf 139%. Bis zum Jahr 2015 stieg dabei die Notfallprävalenz der 20-29jährigen Patienten in den Ambulanzen auf 119,8% des Niveaus von 2009, während in der Altersgruppe 85+ der Anstieg 110,6% beträgt. Bestätigt wurde dieses deskriptive Ergebnis in einer Regressionsanalyse zum Einfluss sozio-demographischen Parameter: Je gesünder (Inzidenzratenratio (IRR) regionale Gesundheitseffekte 1,15 (KI 95%: 1,13; 1,16)) und urbaner (IRR Urbanitätsindex 1,14 (KI 95%: 1,13; 1,15)) eine Bevölkerung ist, desto eher nimmt sie die ambulante Notfallversorgung in Anspruch. Die Analyse des Indikationsspektrums zeigt, dass im Bereitschaftsdienst Diagnosen aus dem ganzen Spektrum der unterschiedlichen ICD Kapitel kodiert sind, während in den Notfallambulanzen wenige Kapitel die meisten Fälle erklären. Regionale Unterschiede zeigen, dass in Ostdeutschland noch immer ein Großteil der Notfälle im Bereitschaftsdienst behandelt wird, während in Westdeutschland annähernd Parität zwischen Bereitschaftsdienst und Notfallambulanzen herrscht.

Diskussion: Die erhöhte allgemeine Inanspruchnahme der ambulanten Notfallversorgung scheint maßgeblich durch das gestiegene Patientenaufkommen in den Notfallambulanzen bestimmt – im Besonderen durch junge Erwachsene. Diverse Studien zeigten bereits Gründe für die höhere Inanspruchnahme, wie z.B. zu lange Wartezeiten bei ambulanten Allgemein- und Fachärzten und erwartete Qualitätsvorteile durch interdisziplinäre Behandlungsoptionen im Krankenhaus. Indikationen mit sinkenden ambulanten Fallzahlen, z.B. bei ischämischen Herzkrankheiten liefern Hinweise auf positive Effekte einer verbesserten ambulanten Versorgung bspw. durch DMPs. Insgesamt müssen die Ergebnisse jedoch unter den Restriktionen von Sekundärdatenanalysen betrachtet werden. Der hier verwendete Datensatz enthält keine Informationen zu Notfällen während der regulären Sprechzeiten im ambulanten Sektor. Empirische Hinweise zur Belastbarkeit der Kodierung sowie der sektoralen Zuordnung liegen im Rahmen dieser Untersuchung nicht vor. Die Analyse von Abrechnungsdiagnosen auf Grundlage der unscharfen, administrativen Notfalldefinition erlaubt zudem keine Aussagen über die Angemessenheit von Notfällen. Dennoch konnten Tendenzen über Unterschiede im Inanspruchnahmeverhalten aufgezeigt werden.

Praktische Implikation: Die Versorgung von Notfällen kann durch Interventionen, die definierte Patientensubgruppen adressieren, effizient verbessert werden. Maßnahmen für Patientengruppen mit einem überproportionalen Inanspruchnahmeverhalten können bspw. telemedizinische Angebote (‚Notfallapp‘) für die Gruppe der 20-29jährigen sein oder eine Verbesserung der Regelversorgung für chronisch Kranke mit hohem Versorgungsbedarf. Dazu ist eine sektorenübergreifende Datenerfassung und Perspektive auf das System der Notfallversorgung essentiell.