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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Regionale Unterschiede von Wirbelsäulenoperationen in Deutschland

Meeting Abstract

  • Thomas Petzold - Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Dresden, Deutschland
  • Falko Tesch - Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Dresden, Deutschland
  • Jürgen-Bernhard Adler - Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), Berlin, Deutschland
  • Christian Günster - Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), Berlin, Deutschland
  • Fritz Uwe Niethard - Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, Berlin, Deutschland
  • Jochen Schmitt - Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Dresden, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP041

doi: 10.3205/16dkvf245, urn:nbn:de:0183-16dkvf2459

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Petzold et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Aufgrund prognostizierter demographischer Entwicklungen ist die Diskussion um die Ausgestaltung einer hochwertigen und effizienten medizinischen Versorgung in Deutschland ein aktuelles gesundheitspolitischen Thema. In der orthopädisch-unfallchirurgischen Chirurgie und im Besonderen für den Bereich der Wirbelsäulenchirurgie wird das Thema der Unter-, Über- oder Fehlversorgung seit einigen Jahren kritisch diskutiert. Im internationalen Vergleich weist Deutschland eine deutlich erhöhte Anzahl an Wirbelsäuleneingriffen auf.

Fragestellung: Ziel der Untersuchung ist die Analyse und Darstellung von Eingriffshäufigkeiten an der Wirbelsäule zwischen 2005 und 2014 in Deutschland und deren regionale Varianz.

Methode: Für den Zeitraum 2005 bis 2014 erfolgte eine Sekundärdatenanalyse von Jahreskohorten zu Behandlungshäufigkeiten von 14 a priori definierten Eingriffsgruppen an der Wirbelsäule (Exzision von Bandscheiben und Knochen; Bandscheibenrezidiv; Reposition, Osteosynthese, Spondylodese; Wirbelkörperersatz; Skoliose; Knöcherne Dekompression; Spreizer; Spreizerentfernung; Facetten OP; Bandscheiben Endoprothese; Bandscheiben Endoprothese, Revision; Kyphoplastien, Implantation Material Wirbelkörper; Minimal-invasive Behandlungsverfahren zur Schmerztherapie; Revision, Materialex). Datengrundlage bilden Daten des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) gemäß §301 SGB V, die alle AOK Versicherte im Untersuchungszeitraum beinhalten. Sie umfassen je nach Alters- und Erkrankungsgruppe 30-35% der Bevölkerung. Auf Grundlage der 16 Bundesländer sowie der 402 Kreise und kreisfreien Städte erfolgte mit Hilfe des Programms InstantAtlas, Firma GeoWise Ltd, Edinburgh die Darstellung der jährlich durchgeführten Wirbelsäuleneingriffe je 100.000 AOK Versicherte. Zur Altersstandardisierung wurde der Europastandard 2013 genutzt.

Ergebnisse: Im Untersuchungszeitraum wurden insgesamt 796.870 Wirbelsäuleneingriffe durchgeführt. Die Anzahl der jährlich durchgeführten Eingriffe stieg von 51.053 in 2005 bis 93.823 in 2011 kontinuierlich an und fällt anschließend auf 91.971 in 2014 ab. Die Eingriffszahlen der Gruppen „Exzision von Bandscheiben und Knochen“, „Bandscheibenrezidiv“, „Reposition, Osteosynthese, Spondylodese“, „Knöcherne Dekompression“, „Facetten OP“, „Kyphoplastien, Implantation Material Wirbelkörper“ und „Revision, Materialex“ stellen 96,2% der Wirbelsäuleneingriffe dar. In nahezu allen betrachteten Eingriffsgruppen konnte im Beobachtungszeitraum ein Anstieg festgestellt werden. Der stärkste Anstieg von 4.754 Eingriffen in 2005 auf 18.088 Eingriffen in 2014 (+280%) erfolgt in der Gruppe der „Knöchernen Dekompression“. Es existiert eine Eingriffsgruppe mit Rückgang an Eingriffszahlen. Dabei handelt es sich um die Gruppe der „Exzision von Bandscheiben und Knochen“, in der 2005 20.511 Eingriffe durchgeführt wurden und in 2014 15.658 (-24%). Die Rate an Wirbelsäuleneingriffe je 100.000 AOK Versicherte variiert zwischen den einzelnen Kreisen. 2014 betrug die Schwankung zwischen 109 und 729 Eingriffen je 100.000 AOK Versicherte. Der Variationskoeffizient schwankt zwischen 0,33 und 1,34 in den jeweiligen Eingriffsgruppen.

Diskussion: Zwischen den einzelnen Kreisen besteht eine hohe Varianz von Wirbelsäuleneingriffen bei AOK Versicherten zwischen 2005 und 2014. Insgesamt konnte über den Untersuchungszeitrum ein deutlicher Anstieg an Eingriffszahlen festgestellt werden. Die demographische Entwicklung und der medizinisch-technologische Fortschritt allein können nicht für den Anstieg operativer WS-Eingriffe verantwortlich gemacht werden. Weitere mögliche Determinanten, wie der sozioökonomischer Status des Versicherten, die physiotherapeutische Versorgung oder strukturelle Merkmale einer Region einen Einfluss auf die Eingriffshäufigkeit haben, sollten in Folgeuntersuchungen betrachtet werden. Sekundärdaten von Krankenkassen sind hierfür besonders geeignet, da sie personenbezogene Längsschnittanalysen erlauben.

Praktische Implikationen: Der Anstieg von Eingriffen an der Wirbelsäule kann nur in geringem Maße der zunehmenden Alterung der Bevölkerung zugeschrieben werden. Die Variation an Eingriffen zwischen den Kreisen macht deutlich, dass regionale bzw. systemimmanente Faktoren existieren müssen, die mit der Eingriffshäufigkeit assoziiert sind. Weiterführende Analysen zur Bestimmung relevanter Einflussfaktoren sind erforderlich, um die Frage einer Unter-, Über- oder Fehlversorgung im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie und die abzuleitenden Konsequenzen zu diskutieren.