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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Multiperspektivische Nutzenerwartungen an den Austausch medizinischer Informationen über eine Onlineplattform für Behandler und Patienteneltern von Kindern mit seltenen chronischen Erkrankungen

Meeting Abstract

  • Boris Schörnig - Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Deutschland
  • Bettina Daser - Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Deutschland
  • Monika A. Rieger - Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Deutschland
  • Matthias Kumpf - Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen, Tübingen, Deutschland
  • Ekkehard Sturm - Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen, Tübingen, Deutschland
  • Joachim Riethmüller - Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen, Tübingen, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP058

doi: 10.3205/16dkvf222, urn:nbn:de:0183-16dkvf2221

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Schörnig et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Seltene chronische Erkrankungen erfordern ein hohes Maß an spezialisiertem Behandlungswissen. Gleichzeitig ist oft eine Vielzahl von Personen in deren Behandlung eingebunden. Bei der hier fokussierten Patientengruppe handelt es sich um Kinder mit Mukoviszidose, Kinder mit Tracheostoma zur Dauerbehandlung und Kinder mit chronischen Leber- und Darmerkrankungen und Organtransplantationen. In Bezug auf die Behandlung und Betreuung der Patienten stehen Fachärzte und Pflegekräfte einer Spezialklinik (Spezialisten) mit nicht-fachspezialisierten Behandlern und Dienstleistern (ambulante Pflegekräfte Allgemeinkliniken, Hausärzte, etc.) (Nichtspezialisten) und Patienten- und Patienteneltern (Betroffene) in einem kontinuierlichen medizinischen Informationsaustausch. Zur Erleichterung dieses Austausches soll zukünftig eine Onlineplattform eingeführt werden, über die sowohl klinische Befunde als auch Fragen zu Gesundheit und Behandlung der Patienten kommuniziert werden können. Erste Ergebnisse ausschließlich aus Sicht der Spezialisten wurden beim DKVF 2015 vorgestellt.

Fragestellung: Die diesjährig vorzustellende Teilstudie untersucht in Bezug auf die geplante Onlineplattform die Nutzenerwartungen und Bedenken aller zukünftigen Benutzergruppen. Dabei stehen folgende Fragen im Zentrum des Interesses:

Wie verhalten sich die unterschiedlichen Nutzenerwartungen zueinander?

Ergänzen sich die jeweiligen Erwartungen oder stehen sie möglicherweise zueinander in Konflikt? Was sind die Einschätzungen der Befragten bezüglich der Bedingungen und Voraussetzungen für den Nutzen der Plattform?

Methoden: Vor Einführung der Plattform wurden insgesamt 7 qualitative Interviews mit Betroffenen, 6 qualitative Einzelinterviews und 2 Fokusgruppeninterviews mit Spezialisten, ferner 6 qualitative Interviews mit Nichtspezialisten geführt. Anschließend wurden alle Interviews transkribiert und pseudonymisiert. Zu Gewährleistung der Intersubjektivität wurden die Interviews in einer Gruppe bestehend aus 5 Personen in Anlehnung an Mayring inhaltsanalytisch ausgewertet.

Ergebnisse: Aus Sicht der Spezialisten liegt der Hauptnutzen einer Online- Plattform in einem schnelleren, effizienteren und datenschutzrechtlich ordnungsgemäßen, fachlichen Austausch von Befunden und Informationen zum aktuellen Behandlungsverlauf. Die Reduzierung des Behandlungs- und Betreuungsaufwandes durch die Reduzierung störender telefonischer An- und Rückfragen im laufenden Betrieb, sowie durch die Verbesserung der Vor-Ort-Versorgung durch Nichtspezialisten standen als Hoffnungen im Vordergrund. Aus Sicht der hier befragten Nichtspezialisten dominierte die Hoffnung auf eine bessere Einbindung in den Behandlungsprozess, auf einen besseren Informationszugang und einen direkten Kontakt zu den Spezialisten die Erwartungen. Ähnlich sehen die befragten Betroffenen in der Plattform die Möglichkeit, zeitflexibel und ohne Rücksicht auf den ärztlichen Behandlungsalltag, ungeklärte Fragen zu stellen und notwendige Informationen anzufordern. Die Hoffnungen der Spezialisten auf die Reduzierung ihres Behandlungs- und Betreuungsaufwands steht dabei möglicherweise mit den Hoffnungen der beiden anderen Befragtengruppen auf einen intensivierten Informationsaustausch in Konflikt. Bezüglich der Voraussetzungen und Bedingungen für den Nutzen gibt es gruppenübergreifend, je nach Rolle und Situation, Forderungen sowohl nach einem möglichst breiten und ungesteuerten Zugang zu Informationen als auch nach situativer und individueller Ausschlussmöglichkeit von Benutzern. Gleiches gilt für die Einforderung zeitlicher Kommunikationsregeln einerseits und die Hoffnung auf zeitliche Flexibilität andererseits. Als weitere Bedingungen für den Nutzen werden u. a. die Interoperabilität der verwendeten IT-Systeme, ein geringer administrativer Aufwand, sowie als Grundvoraussetzung die Motivation und eine verlässliche Teilnahme aller Akteure genannt.

Diskussion: Wie zu erwarten unterscheiden sich die Erwartungen je nach Benutzergruppe, teilweise jedoch auch innerhalb der Gruppen je nach Situation und Rolle im Behandlungsprozess. Während es sich in einigen Fällen um ähnliche oder gar komplementäre Erwartungshaltungen handelt, konnten wir in anderen Fällen auch konfligierende Erwartungshaltungen ausfindig machen. Vor dem Hintergrund, dass Motivation und Teilnahmebereitschaft grundlegende Bedingung für das Funktionieren der Plattform zu sein scheinen, sollte bei der konkreten Ausgestaltung nicht nur auf den Patientennutzen fokussiert, sondern auch die Erwartungshaltungen und Rahmenbedingungen der anderen potentiellen Benutzergruppen berücksichtigt werden.

Implikationen: Für eine erfolgreiche Implementation einer solchen Onlineplattform scheint es erforderlich, vorab die unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Rahmenbedingungen aller beteiligten Benutzergruppen transparent zu machen, um so ein gemeinsames Verständnis für eine möglichst allseitig effektive Benutzung herzustellen.

Contributed equally: B. Daser