gms | German Medical Science

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Barrierefreie Beratung – ein Beitrag zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Menschen mit Beeinträchtigungen

Meeting Abstract

  • Marion Michel - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Leipzig, Deutschland
  • Ines Conrad - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Leipzig, Deutschland
  • Martina Müller - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Leipzig, Deutschland
  • Birte Pantenburg - Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Leipzig, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP036

doi: 10.3205/16dkvf178, urn:nbn:de:0183-16dkvf1789

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Michel et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: Mit Inkrafttreten der UN-BRK im Jahr 2006 und deren Ratifizierung in Deutschland werden die Rechte von Menschen mit Behinderungen zur uneingeschränkten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gestärkt. Dazu gehört auch das Recht auf Sexualität, Partnerschaft und Elternschaft sowie auf barrierefreie Information und Aufklärung. Bauliche und kommunikative Barrieren, Vorurteile und Einschränkungen der sexuellen Selbstbestimmung im Rahmen der Kontextfaktoren, Unkenntnis bei medizinischem oder sozialpflegerischem Personal über Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten benachteiligen Menschen mit Beeinträchtigungen noch immer in der Wahrnehmung ihres Rechts auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung und Gesundheit.

Im Rahmen einer Studie zur Unterstützten Elternschaft (gefördert durch das BMAS) wird die Situation von Eltern mit Behinderungen aus der Sicht der Leistungsträger der Jugend- und Eingliederungshilfe, der Leistungserbringer und der Leistungsnehmer analysiert. Im Rahmen einer zweiten Studie (gefördert durch das BMFSFJ) werden die Ergebnisse ergänzt aus der Sicht von Berater_innen der Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen von donum vitae e.V.

Fragestellung: Im Beitrag sollen ausgewählte Einflussfaktoren auf eine selbstbestimmte Information und Beratung zu Fragen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen vorgestellt werden. Es wird hinterfragt, welche Leistungen Träger der Jugendhilfe bzw. der Eingliederungshilfe für Eltern mit Beeinträchtigungen gewähren und in welcher Weise Angebote der Begleiteten Elternschaft im Gegensatz zu allgemeinen Angeboten nach SGB VIII – Hilfen zur Erziehung – dem besonderen Unterstützungsbedarf von Eltern mit kognitiven Beeinträchtigungen entsprechen.

Methode: Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung eines Inklusionsprojektes des Bundesverbandes von donum vitae e.V. wurden sowohl qualitative als auch quantitative Daten zur Etablierung eines barrierefreien Beratungsangebotes sowie fördernder und hemmenden Faktoren bei der Umsetzung des inklusiven Konzeptes erhoben.

Die Daten zu Angeboten zur Unterstützten Elternschaft wurden über eine Online-Befragung aller Träger der Jugend- und Eingliederungshilfe sowie von Projekten der Unterstützten Elternschaft erhoben. Diese Daten werden durch Fallstudien mit Eltern mit Behinderungen sowie vertiefende telefonische Interviews mit ausgewählten Leistungsträgern ergänzt.

Ergebnisse: Während der Rücklauf der Fragebogen der Leistungsträger der Jugend- und der Sozialhilfe nur sehr gering war, beteiligten sich Projekte zur Unterstützten Elternschaft zu 50% an der Umfrage. Auch die Erarbeitung der Fallstudien verlief planmäßig. Sie liefern wichtige Aussagen zu Möglichkeiten gelungener oder Folgen unzureichender Unterstützung der Eltern und ihrer Kinder.

Neben einer Überlastung der Mitarbeiter wurden als Gründe für die Nichtteilnahme der Leistungsträger angegeben, dass die Behinderung der Eltern nicht erfasst werde, alle Eltern gleich behandelt würden, Eltern mit Behinderungen nicht bekannt seien oder man für die Unterstützung der Eltern nicht zuständig sei. Leistungsträger, die sich an der Umfrage beteiligten, berichteten sowohl über geringe Erfahrungen mit dieser Elterngruppe als auch über gute, trägerübergreifende Angebote für Eltern und Kinder. Im Beitrag werden ausgewählte Ergebnisse dargestellt.

Aus der Sicht der Beraterinnen der Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen wird deutlich, wie wichtig bedarfsgerechte Unterstützungsangebote sind. Im Beitrag werden Folgen fehlender Angebote für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen dargestellt. Berater_innen geraten im Beratungsgespräch besonders dann in schwierige Situationen, wenn Mitarbeiter von Einrichtungen der Behindertenhilfe entscheiden, ob und für welche Klient_innen Beratungen oder sexuelle Bildungsangebote ermöglicht werden oder Eltern von jungen Frauen mit kognitiven Einschränkungen aus Angst vor einer Schwangerschaft ihrer Töchter die sexuelle Selbstbestimmung ihrer Töchter einschränken, da Unterstützungsmöglichkeiten für junge Eltern nicht bekannt sind.

Diskussion: Die Ergebnisse der beiden vorgestellten Studien belegen aus unterschiedlichen Blickwinkeln den Stand der Umsetzung der UN-BRK im Bereich der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung in Deutschland und bestehenden Handlungsbedarf zur Gewährleistung der sexuellen Rechte sowie der bedarfsgerechten Unterstützung von Eltern und Kindern.

Praktische Implikationen: Die Ergebnisse der beiden vorgestellten Studien werden in die Diskussion um das Bundesteilhabegesetz eingebracht. Es sollen Handlungsempfehlungen für Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsnutzer abgeleitet werden, die Selbstbestimmung auch im Bereich der Sexualität und Elternschaft ermöglichen.