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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Ethnische Versorgungsstrukturen: Die Ärzteschaft türkischer Herkunft im deutschen Gesundheitswesen

Meeting Abstract

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  • Lisa Peppler - Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Göttingen, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP096

doi: 10.3205/16dkvf174, urn:nbn:de:0183-16dkvf1741

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Peppler.
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Gliederung

Text

Obwohl die Möglichkeiten einer verbesserten gesundheitlichen Versorgung von Patient/innen ausländischer Herkunft seit einigen Jahren verstärkt diskutiert werden, werden die zahlreichen migrierten und postmigrantischen Mediziner/innen im deutschen Gesundheitssystem noch zu wenig systematisch in die Überlegungen einbezogen. Dabei beträgt die Zahl der gemeldeten ausländischen Ärzt/innen laut der Ärztestatistik der Bundesärztekammer 2014 knapp 40.000. Insofern stellt sich die Frage, wie sich die Ärzteschaft und die Patientenschaft ausländischer Herkunft im Kontext gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen zueinander verhalten. Am Beispiel der professionellen Positionierungsprozesse von Ärzt/innen türkischer Herkunft in Deutschland ist im Folgenden die Fragestellung zu erörtern, welche Rolle Ethnisierungsprozesse bei der Implementierung von Versorgungsmaßnahmen spielen. Für meine Dissertation führte ich qualitative Leitfaden- und Experteninterviews mit 32 Ärzt/innen türkischer Herkunft. Die komparative Analyse der transkribierten Interviews erfolgte mithilfe MAXQDA-gestützter Codierung.

Als zentrales Ergebnis ist die Entwicklung ethnischer Versorgungsstrukturen herauszustellen, die sich seit den 1970er Jahren etablierten und heute fester Bestandteil des deutschen Gesundheitswesens sind. Dabei handelt es sich um das Resultat überaus komplexer Sortierungsprozesse entlang ethnischer Linien, die sich primär aus dem Alltagshandeln der Patient/innen sowie dem professionellen Handeln der Ärzt/innen ergeben.

Basierend auf der freien Arztwahl sucht die Bevölkerung türkischer Herkunft im Krankheitsfall zumeist Ärzt/innen derselben Herkunft auf. Sie erhoffen sich dadurch beispielsweise ein besonderes Verständnis für ihre persönliche Situation oder einen besseren Zugang zu Gesundheitsleistungen, weil ihr Arzt resp. ihre Ärztin >ihrer< Kultur angehört und >ihre< Sprache spricht, also >eine(r) von ihnen< ist. Insofern ist das Arzt-Patienten-Verhältnis wesentlich durch ethnisierende Vergemeinschaftungsbestrebungen seitens der Patient/innen geprägt. Dadurch stellen sie generell eine stabile Klientelbasis für eine niedergelassene Praxis dar. Insofern sprechen die Befragten beispielsweise von ihrer „Ethnopraxis“ oder „Kopftuchpraxen“.

Darüber hianus werden die Ärzt/innen auch von ihren Kolleg/innen sowie von der Gesamtgesellschaft als Türk/innen wahrgenommen. Als Mitglieder der medizinischen Profession positionieren sie sich in diesem Kontext als Expert/innen für die gesundheitliche und soziale Fürsorge >ihrer< Klientel. Sie argumentieren dabei nicht nur mit Sprachkenntnissen, kulturellen oder religiösen Gesichtspunkten, sondern auch damit, dass sie aufgrund ihrer eigenen Migrationserfahrungen sehr viel näher an den Lebenswelten der Patient/innen dran sind. Somit könnten sie deren spezifisches Gesundheitsverhalten besser verstehen und sie dementsprechend erfolgreicher behandeln, nicht nur kurativ, sondern auch hinsichtlich präventiver Maßnahmen. Sie initiieren Prozesse und schaffen Strukturen in Kooperation mit gesundheitspolitischen und medizinischen Entscheidungsträgern zur besseren migrantischen Gesundheitsversorgung, die generell als Voraussetzung für Integration gilt. Als Beispiele sind neben den angesprochenen Praxen auch spezialisierte Medizinische Versorgungszentren, sog. Migrantenambulanzen in Krankenhäusern oder Kooperationsprojekte von deutsch-türkischen Ärzteorganisationen mit Patientenverbänden zu nennen.

Sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor haben sich also bereits ethnische Versorgungsstrukturen herausgebildet, die allerdings eher partiell erscheinen und insgesamt noch zu wenig bekannt sind. Ein Grund dafür könnte sein, dass solche Initiativen zwar informell angestoßen werden, letztlich aber zu häufig an knappen Ressourcen scheitern. Dabei wäre hier durchaus ein langfristiger Nutzen für das Gesundheitssystem zu erwarten, wenn medizinische Versorgung sich systematisch für diese und andere ethnische Patientengruppen realisieren ließe. Schließlich erfordert unsere plurale Gesellschaft ein >pluralisiertes< medizinisches Angebot. Erste Überlegungen zu umfassenden Neuerungen zeigen sich in der Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Positionspapier des Bundesweiten Arbeitskreises Migration und öffentliche Gesundheit im August 2013. Darin befürwortet sie deren Vorschlag, bei der Bewertung von Zulassungen von Praxisplätzen für Psychotherapeuten deren Migrationshintergründe und Sprachkenntnisse in die Entscheidung für eventuelle Sonderbedarfe einfließen zu lassen. Diese Möglichkeiten der Versorgung sollten gesundheitspolitisch unterstützt, ausgebaut und weiter etabliert werden – insbesondere jetzt, da sich die Bedarfssituation angesichts aktueller Immigrationsbewegungen und gleichzeitigem Ärztemangel noch einmal zuspitzt.