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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Verteilung von Verwirklichungschancen in der zweiten Lebenshälfte: Ergebnisse einer explorativen Pilotstudie

Meeting Abstract

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  • Nina-Alexandra Götz - Universität Osnabrück, New Public Health, Osnabrück, Deutschland
  • Birgit Babitsch - Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocP009

doi: 10.3205/16dkvf159, urn:nbn:de:0183-16dkvf1598

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Götz et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Obwohl der „Capability Approach“ (CA) (auch als Verwirklichungschancen-Ansatz bezeichnet), bereits in der politischen Debatte oft angeführt wird, zur Bestimmung von sozialen Ungleichheitsmaßen (z.B. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung [1]; Kinder- und Jugendbericht [2]), ist er in der Versorgungs- und Gesundheitsforschung erst wenig konzeptionell aufgearbeitet worden. Der CA geht davon aus, dass verfügbare Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten sowie -möglichkeiten maßgeblich für das Wohlergehen von Individuen sind [3]. Anders als mit den „traditionell“ verwendeten vertikalen Ungleichheitsmaßen wie Bildung, berufliche Stellung und Einkommen, sollen nach dem CA die verfügbaren positiven Freiheiten bzw. Verwirklichungschancen bewertet werden. Auf Grund der bisher unzureichenden empirischen Umsetzung und Indikatorenidentifikation in Form von Verwirklichungschancen, wurde hierfür eine explorative Pilotstudie in der Stadt Osnabrück durchgeführt.

Fragestellungen: Zwei zentrale forschungsleitende Fragen ergaben sich im quantitativen Studienteil:

Wie sieht die Verteilung von Verwirklichungschancen in der älteren Bevölkerung aus? Sind diese losgelöst von den vertikalen Ungleichheitsmaßen oder hängen sie mit diesen zusammen?

Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Verwirklichungschancen und Gesundheitsvariablen?

Methode: Zur Identifikation und Operationalisierung von Verwirklichungschancen für ältere Personen wurde ein sequentielles qualitatives-quantitatives Studiendesign angewandt. Dabei wurden zunächst 9 Interviews (Alter > 58 Jahre) geführt, diese mit der qualitativen zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring [4] ausgewertet, woraus ein Kategoriensystem resultierte. Mit Hilfe dessen wurde nach einer standardisierten, anonymisierten Expertenbefragung zur Validierung der Kategorien, ein Fragebogen konzipiert, der innerhalb einer Einwohnermeldeamtsstichprobe der Stadt Osnabrück eingesetzt wurde. Der Rücklauf betrug 647 Fragebögen von 2.968 versandten Fragebögen.

Ergebnisse: Die Verteilung der Verwirklichungschancen von Personen in den einzelnen Dimensionen ist sehr unterschiedlich. Es gaben bspw. nur 42,64 % Personen (n= 647; Mind. Kriterium: „Trifft zu“) an, die Möglichkeit zu haben in die Unterstützung von Freunden/ Bekannten vertrauen zu können im Falle der Pflege- oder Hilfsbedürftigkeit. Jedoch gaben demgegenüber 77, 08 % (n= 647; Mind. Kriterium: „Trifft zu“) an, die Möglichkeit zu haben in die Unterstützung durch Familienangehörige bei Pflege- oder Hilfsbedürftigkeit vertrauen zu können. Diese großen Unterschiede in der Einschätzung der verfügbaren Verwirklichungschancen zeigen sich auch in den weiteren Dimensionen. Im Bereich der Dimension Lebenssinnkonstrukt gaben bspw. nur 33,49 % (n= 647; Mind. Kriterium: „Trifft zu“) an, dass sie die Möglichkeit haben etwas bewegen und mitwirken zu können in der Gesellschaft.

Für die Analyse der Zusammenhänge zwischen Verwirklichungschancen und Gesundheitsvariablen wurde zunächst eine explorative Faktorenanalyse durchgeführt. Diese deutet daraufhin, dass eine zweifaktorielle Lösung je Skala geeignet scheint. Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Faktoren der Verwirklichungschancen und den Gesundheitsvariablen wie selbsteingeschätzte subjektive Gesundheit, allgemeiner Gesundheitszustand sowie das Depressionsscreening (erhoben mit PHQ9) deuten auf signifikante Zusammenhänge hin. Der Zusammenhang zwischen dem individuellen sozioökonomischen Status und den Verwirklichungschancen scheint demgegenüber eher schwach zu sein.

Diskussion: Verwirklichungschancen scheinen in der älteren Bevölkerung einen bedeutenden Zusammenhang mit Gesundheitsvariablen zu haben. Die weitere Untersuchung der Verteilung von Verwirklichungschancen könnte Aufschluss über defizitäre und deprivierte Umstände im höheren Lebensalter geben. Anders als bei denen häufig als „realitätsfernen“ kritisierten Schichtindikatoren wäre somit ggf. aus den Verwirklichungschancen Interventionsbedarf für die Versorgungsforschung ableitbar.

Praktische Implikationen: Zum einen ergibt sich auf Grund der Ergebnisse die Überlegung, ob es in Zukunft sinnvoll wäre, innerhalb von Gesundheits-Surveys auch Items zur Abfrage von Verwirklichungschancen aufzunehmen. Zum anderen könnte, wie bereits angeführt, aus den Ergebnissen ein zielgruppengerechter präventionspolitischer Interventionsbedarf identifiziert werden.

Contributed equally: N.-A. Götz, B. Babitsch


Literatur

1.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. 2005.
2.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. 2013.
3.
Sen A. Capability and Well-being. In: Nussbaum MC, Sen A, eds. The Quality of Life. New York: Oxford University Press; 1993. S. 30-53.
4.
Mayring P. Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11. aktualisierte und überarb. Auflage. Weinheim: Beltz; 2010.