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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Ökonomische Fehlanreize in der Geburtshilfe nach Anpassung des DRG-Systems

Meeting Abstract

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  • Udo Schneider - WINEG - Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen, Hamburg, Deutschland
  • Heike Botson - WINEG / Techniker Krankenkasse, Hamburg, Deutschland
  • Roland Linder - WINEG - Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen, Hamburg, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocFV07

doi: 10.3205/16dkvf059, urn:nbn:de:0183-16dkvf0599

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Schneider et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Der Anteil der Kaiserschnitte an allen Geburten ist in den letzten Jahren weltweit gestiegen, allein in Deutschland von 21,5 % im Jahr 2000 auf 31,8 % im Jahr 2013. Im Jahr 2010 wurde im DRG-System eine Neuerung eingeführt, der zufolge Kaiserschnitte, die vor Beginn des natürlichen Geburtsvorgangs und damit geplant erfolgen (primäre Sectiones) anders vergütet werden als Kaiserschnitte, welche nach Beginn des natürlichen Geburtsvorgangs oftmals notfallmäßig eingeleitet werden (sekundäre Sectiones). Als sekundäre Sectio dokumentierte Kaiserschnitte können mit einer höher vergüteten DRG abgerechnet werden und führen somit zu einem höheren Ertrag des Krankenhauses. So erlöst im Jahr 2016 bei einem Basisfallwert von 3000 EUR eine nach DRG-Kode O 01G abgerechnete primäre Sectio 2688 EUR (Relativgewicht (RG) = 0,896), eine hinsichtlich Schwangerschaftswoche und Komplexität der Diagnose vergleichbare nach DRG O 01E abgerechnete sekundäre Sectio 3357 EUR (RG = 1,119).

Fragestellung: Die Arbeit geht der Frage nach, inwieweit sich die geänderten Abrechnungsmöglichkeiten auf das Kodierverhalten der Krankenhäuser ausgewirkt haben. Um weitere potentielle Einflussfaktoren zu identifizieren, wurden regionale Faktoren, Veränderungen in der Altersstruktur und der Anzahl der Re-Sectiones sowie eine Wandel in der Diagnosestellung analysiert.

Methode: In einer retrospektiven Analyse basierend auf GKV-Routinedaten der Techniker Krankenkasse der Jahre 2005 bis 2014 wurden insgesamt 200.982 abgerechneten Krankenhausfällen mit einer Kaiserschnittentbindung erfasst. Die Art der Sectiones wurde für die Jahre 2005 bis 2009 ausschließlich über die entsprechenden Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) identifiziert, ab 2010 teilweise sowohl über die Differenzierung in den DRG-Kodes als auch über OPS. Um neben den geänderten finanziellen Anreizen weitere potenzielle Einflussfaktoren zu untersuchen, wurde die Entwicklung der Re-Sectiones über den OPS-Kode 5-749.0 analysiert, Mehrlingsschwangerschaften und Nebendiagnosen über die entsprechenden Diagnoseschlüssel (ICD-10-GM). Unter der Annahme regional unterschiedlicher Entwicklungen im Verhältnis der primären zu den sekundären Sectiones wurden die Daten zudem auf Kreisebene und hinsichtlich der siedlungsstrukturellen Kreistypen analysiert.

Ergebnisse: Ein Vergleich der abgerechneten Krankenhausleistung vor und nach der Abrechnungsdifferenzierung im Jahr 2010 zeigt bei relativer Betrachtung eine deutliche Zunahme sekundärer im Verhältnis zu primären Sectiones: Erstmal im Jahr 2009 übersteigt der Anteil der sekundären (erlösträchtigeren) Sectiones den Anteil der primären Sectiones. Dieser Trend führt sich kontinuierlich fort, bis der Anteil der sekundären Sectiones im Jahr 2014 bei 56 % und der Anteil der primären Sectiones bei 44 % liegt. Im Rahmen der Analyse konnten keine weiteren Einflussfaktoren identifiziert werden, welche diese Entwicklung begründen.

Diskussion: Exemplarisch für ökonomische Fehlanreize im bestehenden DRG-System illustriert die vorliegende Untersuchung, wie sich Upcoding in beachtlichem Umfang in der Geburtshilfe manifestiert. Für die sprunghafte Zunahme sekundärer Sectiones im zeitlichen Zusammenhang mit geänderten Abrechnungsmodalitäten lassen sich keine weiteren Erklärungskomponenten finden. Der beobachtete starke Anstieg der Re-Sectiones hätte eine gegenläufige Entwicklung erwarten lassen. Der Techniker Krankenkasse sind durch die Verschiebung der Relation von primären und sekundären Sectiones hin zu mehr sekundären Sectiones seit der DRG Umstellung Mehrkosten in Höhe von knapp 3,7 Mio € entstanden.

Praktische Implikationen: Die vorliegende Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass ein durch Fehlanreize gesteuertes Verhalten der Krankenhäuser vorliegt. Der allgemeine Anstieg der Anzahl an Sectiones und insbesondere die sprunghafte Zunahme an sekundären Sectiones in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Möglichkeit diese in einer höher vergüteten DRG abrechnen zu können, kann nicht durch andere Einflussfaktoren erklärt werden. Ansatzmöglichkeiten für eine Unterstützung des Handelns der Krankenhäuser könnten in Leitlinienvorgaben liegen, auf die sich die Häuser bei Komplikationen und Haftungsfragen berufen könnten. Ein bestehender Trend zur Defensivmedizin ließe sich dadurch möglicherweise abschwächen.