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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Schlaf- und Beruhigungsmittel an der Schnittstelle Krankenhaus – Hausarztpraxis

Meeting Abstract

  • Vivien Weiß - Universitätsmedizin Göttingen, Allgemeinmedizin, Göttingen, Deutschland
  • Stefanie Heinemann - Universitätsmedizin Göttingen, Allgemeinmedizin, Göttingen, Deutschland
  • Kati Straube - Evangelisches Krankenhaus Göttingen-Weende, Innere Medizin, Göttingen, Deutschland
  • Roland Nau - Evangelisches Krankenhaus Göttingen-Weende, Geriatrie, Göttingen, Deutschland
  • Wolfgang Himmel - Universitätsmedizin Göttingen, Allgemeinmedizin, Göttingen, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocFV39

doi: 10.3205/16dkvf046, urn:nbn:de:0183-16dkvf0460

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Weiß et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Die sektorale Abgrenzung medizinischer Leistungserbringung führt zu Informationsverlusten und Versorgungsdiskontinuitäten. Bei der Einweisung in ein Krankenhaus oder Entlassung in die hausärztliche Versorgung werden nicht selten unnötige Medikamente weiterverordnet und/oder Patienten nur unzureichend über die medikamentöse Therapie informiert. Gerade bei Ein- und Durchschlafstörungen wissen Patienten oft nicht, welche Medikamente sie erhalten haben und welche Risiken und Nebenwirkungen damit verbunden sind. Diese unbefriedigende Situation sollte geändert und der Weitergebrauch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln nach Entlassung begrenzt werden. Für die Entwicklung entsprechender Interventionen wäre wichtig zu wissen, wie die an der Schnittstelle tätigen Akteure das Problem der Anwendung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln wahrnehmen.

Fragestellung: Wie spiegelt sich die Anwendung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, insbesondere bei Benzodiazepinen und sog. Z-Substanzen aus Sicht von Haus- und Krankenhausärzten und -ärztinnen und wie interagieren die Beteiligten dabei?

Methode: Für eine offene Exploration der Schnittstellenproblematik wurden 2015 halbstrukturierte Interviews mit (bisher) 11 Hausärzten und -ärztinnen aus Südniedersachsen und Nordhessen und 10 Ärzten und Ärztinnen aus einem Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung derselben Region geführt. Die Auswahl erfolgte zielgerichtet gemäß purposive sampling: u. a. nach Geschlecht, Alter und Berufserfahrung, bei Hausärzten und -ärztinnen auch nach Lage der Praxis. Nach einer erzählgenerierenden Eingangsfrage, wurden – soweit nicht spontan thematisiert – folgende Themenbereiche angesprochen: Erfahrungen an der Schnittstelle Krankenhaus – Hausarztpraxis, Arzt-Patienten-Beziehung, kritische Situationen, Verbesserungswünsche, alternative Behandlungsmöglichkeiten. Die transkribierten Gespräche wurden inhaltsanalytisch nach Mayring ausgewertet. Die Kategorienbildung erfolgt induktiv.

Ergebnisse: In den drei zeitlich entscheidenden Phasen traten folgende Probleme einseitig oder wechselseitig zutage: (1) Während des Krankenhausaufenthaltes wurden bereits vor dem Krankenhaus eingenommene Schlaf- und Beruhigungsmittel nicht abgesetzt; die Krankenhausärzte und -ärztinnen fühlten sich hier in einer Zwangssituation (eine typische Äußerung im Gespräch mit einem Krankenhausarzt (56 J.): „[...] wenn sie einen haben, der abhängig ist, müssen sie ihms geben ja sonst habens n Delir.“). (2) Während der Entlassung in die ambulante Versorgung sahen sowohl Krankenhaus- als auch Hausärzte und -ärztinnen es als nicht unbedingt notwendig an, sich mit dem jeweils anderen Versorgungspartner über die Verordnung dieser Medikamentengruppe auszutauschen, z. B. in den Entlassungsbriefen (Krankenhausarzt, 28 J.: „[...] rein als Bedarfsmedikation so beim normalen etwas jüngeren orientierten Patienten, das taucht nie wieder irgendwo im Brief auf.“). (3) Während der hausärztlichen Versorgung werden Benzodiazepine und Z-Substanzen manchmal als Life-Style-Medikamente angesehen, um z. B. in Akutsituationen effektiv Hilfe zu leisten. In psychischen Belastungssituationen ist der Einsatz dieser Medikamente eher ein Akt der Hilflosigkeit (Hausarzt, 56 J.: „[...] wenn ein Patient, ganz massiv, ich will ein Medikament, es hilft nichts Anderes, und ich ihn auch gesprächsmäßig auf keine andere Ebene [bekomme], ist es ja auch ein Akt der Hilflosigkeit.“).

Diskussion: Der Einsatz von Schlaf- und Beruhigungsmittel während der ambulanten und stationären Versorgung folgt unterschiedlichen, nicht immer rationalen Kriterien bzw. ist Ausdruck von Konstellationen, die Handlungsdruck erzeugen. Die effektive und schnelle Wirkung der entsprechenden Medikamente während Akutsituationen empfinden Haus- und Krankenhausärzte und -ärztinnen als positiv. An keiner Stelle in den Interviews wurde die Gefahr einer Langzeiteinnahme als Folge sektoraler Bruchstellen aktiv thematisiert.

Praktische Implikationen: Zwischen ambulanter und stationärer Versorgung fehlt es gerade in einem sensiblen Bereich wie dem Einsatz von Schlaf- und Beruhigungsmitteln an gemeinsamer Problemsicht und Kommunikation. Interventionen sollten ein gemeinsames Problemverständnis unterstützen und die Kommunikation über neu angesetzte bzw. abgesetzte Medikamente und/oder Dosisanpassungen sicherstellen. Der Gefahr eines fast unbemerkten Abgleitens in die Langzeiteinnahme, aber auch den Risiken des kurzfristigen Gebrauchs von Benzodiazepinen und Z-Substanzen könnte dadurch begegnet werden.