gms | German Medical Science

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Übertherapie mit antihyperglykämischen Medikamenten bei Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 in Europa – Daten der GUIDANCE Study

Meeting Abstract

  • Nicolle Müller - Universitätsklinikum Jena, Klinik für Innere Medizin III, Jena, Deutschland
  • Christiane Kellner - Universitätsklinikum Jena, Klinik für Innere Medizin III, Jena, Deutschland
  • Viktor Jörgens - Emer. Director of European Association for the Study of Diabetes, Düsseldorf, Deutschland
  • Johannes Roth - Universitätsklinikum Jena, Klinik für Innere Medizin III, Jena, Deutschland
  • Christof Kloos - Universitätsklinikum Jena, Klinik für Innere Medizin III, Jena, Deutschland
  • Ulrich A. Müller - Universitätsklinikum Jena, Klinik für Innere Medizin III, Jena, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocFV33

doi: 10.3205/16dkvf021, urn:nbn:de:0183-16dkvf0217

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Müller et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: Der wichtigste Parameter zur Beurteilung der Behandlungsqualität von Menschen mit Diabetes mellitus ist der HbA1c-Wert. Nachdem in großen Studien ein erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko für sehr niedrige HbA1c-Zielwerte gezeigt wurde, erfolgte eine Überarbeitung der Therapieziele in allen Leitlinien. Um das Risiko diabetesbedingter Folgeerkrankungen zu reduzieren sollte laut aktuellen Leitlinien ein nach Risiko- und Nutzen- Abwägung individuelles Therapieziel angestrebt werden. Dieses sollte für den HbA1c-Wert in dem Korridor von 6,5-7,5% liegen, bei älteren bzw. multimorbiden Menschen kann ein höherer HbA1c-Wert bis 8,0% akzeptiert werden. Bei älteren Menschen besteht durch sehr niedrige Blutglukosewerte ein erhöhtes Risiko von schweren Hypoglykämien, welche mit einer erhöhten Mortalität assoziiert sind.

Fragestellung: Wie hoch ist das Ausmaß der Übertherapie durch antihyperglykämische Medikation bei älteren Menschen mit Typ 2 Diabetes (DM2) in Europa?

Methoden: Die GUIDANCE study ist eine retrospective, cross-sektionale Studie. Es wurden Daten ambulant betreuter Patienten aus acht europäischen Ländern erhoben: Frankreich, Belgien, Italien, Niederlande, Schweden, UK, Irland und Deutschland. Die Datenerhebung erfolgte von März 2009 bis Dezember 2010. In die Untersuchung eingeschlossen wurden alle Menschen mit Diabetes Typ 2 der niedergelassenen Ärzte, welche ihr Einverständnis zur Teilnahme gaben. Insgesamt konnten 7597 Menschen mit DM2 rekrutiert werden (Alter 66,5 Jahre, HbA1c 7,1%). 73.7% waren beim Hausarzt in Behandlung und 26.3% bei einem Spezialisten.

Ergebnis: 59.1% (n=4.459) der Teilnehmer waren 65 Jahre oder älter. Das individuelle Therapieziel (HbA1c <=8%) erreichen 81.5% dieser älteren Menschen, 58.6% haben einen HbA1c <=7% und 35.4% haben einen HbA1c <=6.5%. Eine potentielle Übertherapie mit einem HbA1c <=7% und einer Therapie mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen hatten 44.7% der älteren Menschen. Von diesen waren 27,1% an einer ischämischen Herzerkrankung oder Herzinsuffizienz erkrankt. Es zeigte sich, dass deutlich mehr ältere Menschen mit ischämischer Herzerkrankung bzw. Herzinsuffizienz einen HbA1c-Wert von 7% oder niedriger hatten, als Menschen ohne Herzerkrankungen.

Diskussion: Etwa die Hälfte der älteren Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 hat unter antihyperglykämischer Therapie mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen einen HbA1c-Wert unterhalb des Therapiezieles. Diese haben ein erhöhtes Risiko für schwere Hypoglykämien mit all seinen Komplikationen, vor allem bei Menschen mit Herzerkrankungen. Ob eine zunehmende Umsetzung der Empfehlung der Leitlinien nach Individualisierung des Therapiezieles zukünftig stärker erfolgt, muss in Versorgungsdaten geprüft werden. Hinzu kommt, dass der HbA1c mit dem Lebensalter ansteigt, eine Tatsache, die bisher in Leitlinien keine Erwähnung findet.

Praktische Implikation: Es ist davon auszugehen, dass in allen acht Ländern eine erhebliche Übertherapie des Typ 2 Diabetes bei alten Patienten stattfindet. Neben den dadurch hervorgerufenen erheblichen Kosten besteht die Gefahr, dass alten Patienten nicht genutzt, sondern geschadet wird. Dem Alter und den Begleiterkrankungen der Patienten gerechte Therapieziele könnte diese Übertherapie vermindern. Auch sollten die Betroffen bei der Festlegung der Therapieziele beteiligt werden und eine strukturierte Schulung obligat sein. Neuste Leitlinien im Ausland werden diesen Forderung bereits gerecht (NICE Guideline Typ 2 Diabetes BMJ April 2016).