gms | German Medical Science

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Haltungen in der Bevölkerung zur Palliativversorgung und zur ärztlich assistierten Selbsttötung – eine repräsentative Umfrage in Deutschland

Meeting Abstract

  • Saskia Jünger - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover, Deutschland
  • Nils Schneider - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover, Deutschland
  • Birgitt Wiese - Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin, Hannover, Deutschland
  • Jochen Vollmann - Ruhr-Universität Bochum, Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Bochum, Deutschland
  • Jan Schildmann - Ruhr-Universität Bochum, Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Bochum, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocFV30

doi: 10.3205/16dkvf013, urn:nbn:de:0183-16dkvf0139

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Jünger et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: Im Zuge der Diskussion über die gesetzlichen Regelungen zur Hospiz- und Palliativversorgung sowie zur assistierten Selbsttötung erfolgte im vergangenen Jahr in Deutschland eine intensive öffentliche und gesundheitspolitische Auseinandersetzung hinsichtlich eines angemessenen normativen Rahmens für Entscheidungen am Lebensende. Umfrageergebnisse zu Präferenzen und Werthaltungen der Bevölkerung in Deutschland weisen einerseits auf eine mehrheitliche Befürwortung unterschiedlicher Formen der so genannten „Sterbehilfe“ hin. Andererseits zeigen sich bei den Ergebnissen deutliche Diskrepanzen, was sich teilweise auf unterschiedliche Frageformulierungen zurückführen lässt. Ziel dieser Umfrage war die Erhebung von Einstellungen zu Palliativversorgung und ärztlich assistierter Selbsttötung. Besonderes Augenmerk lag dabei auf einer präzisen Darstellung konkreter ärztlicher Handlungen und Bedingungen, bezüglich derer die befragten Bürger/innen ihre Einschätzung abgegeben sollten.

Fragestellung: Es wurden vier Themenkomplexe zur Handlungspraxis am Lebensende beleuchtet: (1) Welche Vorstellungen haben Menschen vom Sterben unter würdigen Bedingungen? (2) Können sich Menschen trotz einer guten Palliativversorgung Situationen vorstellen, in denen jemand nicht mehr weiterleben will? (3) Welche (potenziell) lebensbegrenzenden Handlungen sind aus Sicht der Befragten ärztliche Aufgaben in der Versorgung am Lebensende? (4) Welche Konsequenzen hätte eine (berufs-)rechtliche Möglichkeit der ärztlich assistierten Selbsttötung?

Methoden: Im Rahmen einer jährlich in Deutschland durchgeführten repräsentativen Bevölkerungsumfrage wurden im Sommer 2015 n=1.598 Bürger/innen zu gesundheitsbezogenen Themen befragt. Der insgesamt 11 Themenfelder umfassende Erhebungsbogen beinhaltete ein Modul mit 12 Fragen zu würdigem Sterben und ärztlich assistierter Selbsttötung. Um ein einheitliches Verständnis der Fragen zu gewährleisten, wurde bei der Entwicklung des Fragebogens besondere Aufmerksamkeit auf eine valide Operationalisierung der konkreten Entscheidungssituationen und ärztlichen Handlungen am Lebensende gelegt. Das Modul wurde im Vorfeld mit sechs Personen unter Verwendung von „Cognitive Interviewing“-Techniken pilotiert. Die Datenauswertung erfolgte mittels deskriptiver Statistiken und bivariater Analysen (χ²-Tests).

Ergebnisse: Vorrangigste Aspekte für ein würdiges Sterben waren Freiheit von Schmerzen (54%), zu Hause zu leben (48%) sowie im Kreis von Familie und Freunden zu sein (47%). Nahezu 40% der Befragten konnten sich vorstellen, das eigene Leben trotz guter Palliativversorgung unter bestimmten Bedingungen vorzeitig beenden zu wollen; 53% waren (eher) der Ansicht, dass es Ärzten berufsrechtlich erlaubt sein sollte, Medikamente zu verschreiben, mit deren Hilfe ein Patient sein Leben beenden kann. Mehr als die Hälfte (58%) der Befragten gaben diesbezüglich an, dass Ärzte vorher mit einem palliativmedizinisch qualifizierten Kollegen Therapieoptionen zur Linderung von Leiden diskutiert haben sollten. Hinsichtlich der erwarteten Konsequenzen, wenn Ärzte Hilfe bei der Selbsttötung leisten dürften, gaben 77% an, dass dadurch unnötiges Leiden verringert werden könnte. Ein großer Teil der Befragten (66%) stimmte der Aussage zu, dass Ärzte bei einer solchen Regelung besser auf Wünsche eingehen könnten, die mit den Werten von Patienten übereinstimmen. Zugleich fürchteten 46% die Gefahr des Missbrauchs. Insgesamt fand sich bezogen auf die Fragen zur ärztlich assistierten Selbsttötung ein bedeutsamer Anteil unter den Befragten (zwischen 15 und 36%), der angab, dies nicht beurteilen zu können.

Diskussion: Die Antworten zeugen von einer differenzierten Einstellung unter den befragten Bürger/innen. In Übereinstimmung mit anderen jüngeren Bevölkerungsumfragen in Deutschland findet sich insgesamt ein mehrheitlicher Anteil an Bürger/innen, die der Beihilfe zur Selbsttötung gegenüber zustimmend eingestellt sind. Die Konsequenzen einer gesetzlichen Regelung, die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung erlauben würde, wurden mehrheitlich positiv eingeschätzt, wobei die Bedeutung einer qualifizierten Beratung durch einen palliativmedizinischen Experten hervorgehoben wurde. Der nennenswerte Anteil von Befragten, der angab, die betreffende Frage nicht beurteilen zu können, unterstreicht die Komplexität der Thematik.

Praktische Implikationen: Ein breit aufgestelltes palliativmedizinisches Versorgungsangebot in Verbindung mit einem gesetzlichen und berufsrechtlichen Handlungsspielraum für die wenigen Patienten, die ihr Leben mit Unterstützung ihrer Ärzte selbst beenden wollen, steht in Übereinstimmung mit den Werthaltungen der Bürger/innen und scheint deren Präferenzen mit Blick auf die letzte Lebensphase am ehesten Rechnung zu tragen.