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15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

5. - 7. Oktober 2016, Berlin

Welche Unterschiede gibt es in der Selbstwahrnehmung der Aufgaben und Tätigkeit von Hausärzten zwischen städtischen und ländlichen Regionen in Norddeutschland? – Eine qualitative Fokusgruppen-Studie

Meeting Abstract

  • Nadine Pohontsch - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Allgemeinmedizin, Hamburg, Deutschland
  • Heike Hansen - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Allgemeinmedizin, Hamburg, Deutschland
  • Ingmar Schäfer - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Allgemeinmedizin, Hamburg, Deutschland
  • Martin Scherer - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Allgemeinmedizin, Hamburg, Deutschland

15. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 05.-07.10.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocFV28

doi: 10.3205/16dkvf011, urn:nbn:de:0183-16dkvf0117

Veröffentlicht: 28. September 2016

© 2016 Pohontsch et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund und Fragestellung: Das Tätigkeitsspektrum von HausärztInnen (HÄ) in ländlichen und städtischen Regionen ist durch eine unterschiedliche Versorgungsinfrastruktur und Arbeitsbedingungen gekennzeichnet. Eine Metropole bringt andere Arbeitsbedingungen für die HÄ mit sich als die Tätigkeit auf dem Lande (z.B. bezüglich der Verfügbarkeit anderer Fachärzte). Es stellt sich die Frage, ob sich auch die Selbstwahrnehmung der HÄ bezüglich ihrer ärztlichen Aufgaben und Tätigkeit regionsabhängig unterscheidet. Unseres Wissens existiert keine Studie aus Deutschland, die sich mit dieser Frage beschäftigt. In der vorliegenden Studie haben wir untersucht, ob und wie sich die Wahrnehmung der HÄ bezüglich ihrer hausärztlichen Aufgaben und Tätigkeiten zwischen städtischen und ländlichen Regionen in Norddeutschland unterscheidet.

Methoden: Wir haben neun Fokusgruppen mit insgesamt N=65 (weiblich=21, männlich=44) hausärztlich tätigen TeilnehmerInnen in drei Regionen Norddeutschlands (Stadt, Umland und Land) durchgeführt. Diese wurden von 2 ModeratorInnen leitfadengestützt geleitet. Die Fokusgruppen wurden digital aufgezeichnet, anonymisiert und wörtlich nach festgelegten Regeln transkribiert. Das Material wurde inhaltsanalytisch von zwei Forscherinnen ausgewertet, dabei wurden die Kategorien zur Strukturierung des Materials sowohl deduktiv als auch induktiv gebildet.

Ergebnisse: Die Koordination und Durchführung der Gesundheitsversorgung und Behandlung ihrer Patienten ist aus Sicht der befragten HÄ eine ihrer Hauptaufgaben. Eine gute Behandlung bzw. Arzt-Patienten-Beziehung soll dabei langfristig, umfassend und kontinuierlich sein. Dies trifft für HÄ aus allen Regionen gleichermaßen zu.

Es zeigten sich jedoch Unterschiede in der Selbstwahrnehmung der hausärztlichen Aufgaben zwischen den HÄ verschiedener Regionen. Das Konzept des Familienmediziners i.S. einer Begleitung „von der Wiege bis zur Bahre“ und der Verantwortung für die (Erst-)Behandlung fast aller Behandlungsanlässe schien in den ländlichen Regionen (Umland und Land) stärker vertreten zu sein, obwohl alle HÄ dies als Ideal der hausärztlichen Versorgung bewerteten. Besonders sahen sich die ländlich niedergelassenen HÄ als Ersatz für die „fehlenden“ Spezialisten in ihrer Region. Dabei betonten sie ihr besonders enges und langfristiges Verhältnis zu ihren Patienten und die positiven Aspekte des Landarztdaseins (z. B. attraktives Einkommen und Umgebung mit hohem Freizeitwert). Nur die Sorge um einen Nachfolger schien in den ländlichen Regionen stärker ausgeprägt. Ein weiterer Unterschied zeigte sich in der Selbstwahrnehmung als „Arzt“ (in der Stadt) oder „Doktor“ (auf dem Land), wobei der „Arzt“ eher als Anbieter medizinischer Dienstleistungen und „Überweisungsschreiber“ bzw. “Zulieferer“ der umliegenden Spezialisten und der „Doktor“ eher als Familienmediziner mit einem sehr vertrauensvollen Verhältnis zu seinen Patienten und einem umfassenden Behandlungsspektrum wahrgenommen wird.

Diskussion und praktische Implikationen: Es muss davon ausgegangen werden, dass die Selbstwahrnehmung der befragten HÄ stark durch die Rahmenbedingungen geprägt ist, unter denen sie ihren Beruf - zum Teil seit Jahrzehnten - ausüben. Diese Rahmenbedingungen sind z.B. die bis vor kurzem bestehende Residenzpflicht und der Spezialisten-Mangel in den ländlichen Regionen.

Die Selbstwahrnehmung für alle Belange der PatientInnen zuständig zu sein und die Bedeutung, die dem Familienbezug und der koordinierenden Funktion zugemessen wird, spiegeln sich in verschiedenen DEGAM-Zukunftspositionen wieder (Hausärzte als Generalisten und Familienmediziner, Koordination und Schutz vor falscher und Überversorgung; http://www.degam.de/positionspapiere.html). Trotz der Unterscheidung von „Ärzten“ und „Doktoren“ in manchen HÄ-Gruppen wird in unseren Ergebnissen auch deutlich, dass die befragten HÄ diese Anforderung an ihre Tätigkeit gerne erfüllen und als essentiell empfinden. Die in der 9. Zukunftsposition genannte langfristige und vertrauensvolle Beziehung zwischen Hausarzt und Patient wird auch von unseren Befragten als entscheidend für eine gute Behandlung und als definierendes Element der hausärztlichen Tätigkeit angesehen. Hierbei scheinen diese Aspekte im ländlichen Raum noch stärker in den Vordergrund zu treten als bei einer hausärztlichen Tätigkeit in der Stadt.

Der an diese qualitative Studie anschließende Survey zur Quantifizierung der Unterschiede in Bezug auf Behandlungsanlässe, Leistungen und Patiententypen wird weiteren Aufschluss über die Unterschiedlichkeiten der hausärztlichen Tätigkeit in städtischen und ländlichen Regionen ermöglichen.