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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Berichteter Verzicht auf medizinische Versorgung. Eine Untersuchung bei chronisch Kranken in Deutschland

Meeting Abstract

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  • Julia Köppen - TU Berlin, Management im Gesundheitswesen, Berlin, Deutschland
  • Julia Röttger - TU Berlin, Management im Gesundheitswesen, Berlin, Deutschland
  • Reinhard Busse - TU Berlin, Management im Gesundheitswesen, Berlin, Deutschland

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocFV77

doi: 10.3205/15dkvf118, urn:nbn:de:0183-15dkvf1189

Veröffentlicht: 22. September 2015

© 2015 Köppen et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Bisherige internationale Studien beschreiben einen erhöhten Verzicht auf medizinische Versorgung, die subjektiv als notwendig erachtet wird („unmet need“), bei Personen mit einem schlechteren Gesundheitszustand. Dabei sind insbesondere Erkenntnisse über Verzicht bei chronisch Kranken von hoher Relevanz. Wie hoch ein Verzicht bei chronisch Kranken in Deutschland ist, wurde bisher nicht ermittelt. Darüber hinaus ist nicht bekannt, auf welche Art der Versorgung und aus welchen Gründen verzichtet wird.

Fragestellungen:

1.
Auf welche subjektiv notwendige medizinische Versorgung verzichten chronisch Kranke und welche Ursachen liegen diesem berichteten Verzicht zugrunde?
2.
Welche soziodemografischen und gesundheitlichen Faktoren sind mit einem berichteten Verzicht auf medizinische Versorgung assoziiert?

Methode: Der Verzicht auf subjektiv notwendige medizinische Versorgung in den letzten 12 Monaten wurde in einer deutschlandweiten Querschnittsbefragung des Projekts „Exploring health system responsiveness in ambulatory care and disease management“ (RAC) erhoben. Für diese Ergebung wurden 52.000 Versicherte der Techniker Krankenkasse mit den Erkrankungen Diabetes mellitus Typ 2 oder Koronarer Herzkrankheit im 4. Quartal 2013 angeschrieben. Des Weiteren unterschied die Stichprobe nach Teilnehmern und potentiellen Teilnehmern von Disease Management Programmen (DMP). Eine deskriptive Auswertung erfolgte für die Fragen worauf und warum verzichtet wurde. Mittels einer logistischen Regressionsanalyse wurde anschließend multivariat untersucht, welche Faktoren in einem Zusammenhang mit einem berichteten Verzicht bestehen. Die Auswahl der Variablen erfolgte dabei in Anlehnung an das Verhaltensmodell der Inanspruchnahme von Andersen und wurden entsprechend in „predisposing“ (z.B. Alter), „enabling“ (z.B. Einkommen) und „need“ (z.B. Schmerzen) Faktoren unterschieden.

Ergebnisse: In die Analysen wurden die Daten von 17.126 Teilnehmern der Befragung eingeschlossen. Das Alter der Befragten lag im Durchschnitt bei 69,3 Jahren (SD ±10,3), der Anteil der Männer belief sich auf 71,1%. Der berichtete Verzicht auf subjektiv notwendige medizinische Versorgung lag bei 14,9%. Am häufigsten wurde der Verzicht auf einen Termin bei einem Facharzt (9,1%), gefolgt von Vorsorgeuntersuchungen (6,3%) angegeben. Der Verzicht auf einen Termin bei einem Hausarzt wurde hingegen von den wenigsten Versicherten genannt (2,1%). Als Hauptursache für einen Verzicht wurden von 8,1% der Befragten die zu langen Wartezeiten auf einen Termin angegeben. Die Chance eines Verzichts war signifikant (p<0,05) erhöht bei Versicherten mit einer Erwerbstätigkeit, bei einem Alter <55 Jahre, subjektiv niedrigem sozialem Status sowie Nicht-Teilnehmern eines DMPs. Weiterhin lag ein signifikant erhöhter Verzicht bei zunehmendem Schweregrad von Schmerzen und Angst/Depressionen vor. Kein Zusammenhang wurde zwischen Nettoäquivalenzeinkommen und berichtetem Verzicht festgestellt.

Diskussion: Es konnten verschiedene Faktoren wie Alter, Erwerbstätigkeit und Gesundheitszustand ermittelt werden, die einen berichteten Verzicht bei chronisch Kranken beeinflussen. Für „predisposing“ und „need“ Faktoren wurde ein stärkerer Einfluss identifiziert als für „enabling“ Faktoren, was u.a. durch die geringen Zuzahlungen im deutschen Gesundheitssystem begründet werden kann. Die Antwortkombination Verzicht auf einen Termin bei einem Facharzt aufgrund zu langer Wartezeiten wurde in dieser Untersuchung als größtes Problem erkannt. Inwieweit die Ergebnisse für Personen mit anderen chronischen Erkrankungen gelten, muss in weiteren Erhebungen geprüft werden.

Praktische Implikationen:Die Bestimmung im Entwurf des Versorgungsstärkungsgesetzes, einen Facharzttermin innerhalb von vier Wochen zu erhalten, geht in die richtige Richtung. Inwieweit ein berichteter Verzicht sich auf die Inanspruchnahme auswirkt, z.B. ist eine höhere Inanspruchnahme von Rettungsstellen vorstellbar, kann Gegenstand zukünftiger Studien sein.