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14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

7. - 9. Oktober 2015, Berlin

Psychopharmaka-Gebrauch: Evidenz aus klinischen Studien versus Versorgungsrealität

Meeting Abstract

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  • Holger Gothe - UMIT, Department für Public Health und HTA, Hall in Tirol, Österreich

14. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 07.-09.10.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocFV88

doi: 10.3205/15dkvf052, urn:nbn:de:0183-15dkvf0525

Veröffentlicht: 22. September 2015

© 2015 Gothe.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Klinische Studien leisten von jeher einen essenziellen Beitrag zur Bewertung von Arzneimitteltherapien, indem sie Aufschluss geben über die Wirkung (Effektivität) der pharmakotherapeutischen Intervention(en) unter den Bedingungen von Therapieexperimenten. Mittlerweile herrscht Konsens darüber, dass die Aussagekraft solcher Studien bezogen auf den Einsatz, die Anwendungsmodalitäten und den potenziellen Nutzen der zuvor klinisch geprüften Arzneimittel unter Alltagsbedingungen sowie bezogen auf ihre Wirksamkeit (Effizienz) in der Routineanwendung allerdings begrenzt ist. Heuristiken, die anders als die klinische Studienlogik Aussagen zu alltagsrelevanten Aspekten des Arzneimitteleinsatzes gestatten, können gegenüber klinischen Studien wertvolle Zusatzinformationen beisteuern. Im Psychopharmaka-Bereich gibt es seit langem Erkenntnisstränge, die von derartigen Zugängen profitieren und die sich heute unter dem Oberbegriff „Versorgungsforschung“ subsumieren lassen.

Fragestellung: Welche Themenfelder von Versorgungsforschungsstudien bezüglich der Anwendung von Psychopharmaka lassen sich identifizieren? Welchen Erkenntnisgewinn, der über das in klinischen Studien erreichte Niveau hinausgeht, liefern sie?

Methode: Im Sinne eines Einführungsreferates in die Thematik werden unter Rückgriff auf die Erfahrungen der Psychopharmaka-bezogenen Anwendungs- und Versorgungsforschung der vergangenen 25 Jahre sowie mittels ergänzender systematischer Literaturrecherchen markante Studien identifiziert und präsentiert, die aus der Anwendungspraxis von Psychopharmaka berichten und auf diese Weise die eingangs umrissene Erkenntnislücke füllen.

Ergebnisse: Folgende Forschungsfelder wurden identifiziert und werden anhand von markanten Beispielstudien aus unterschiedlichen „Epochen“ der Anwendungs- und Versorgungsforschung zu Psychopharmaka im vorliegenden Beitrag dargestellt:

1.
Ärztliche Therapieentscheidungen (Medical Decision Making) mit all ihren Facetten (Physician Factor/Arztindividualität, ärztliche Therapiekonzepte und arzt-individuelle Einstellungen gegenüber Psychopharmaka etc. [1], [2];
2.
Therapiemodalitäten und Behandlungsverläufe (z. B. Fragen der Persistenz und Adhärenz, Early Termination und Abbruchgründe) [3], [4];
3.
Erbringung von Nutzenbelegen zum Wirkungs- und Nebenwirkungsspektrum von Psychopharmaka im Zeitverlauf [5], [6];
4.
Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS)/Pharmakovigilanz. Der letztgenannte, ebenfalls mittels Routinedaten adressierbare Bereich ist Thema eines eigenen Vortrages (Prof. Dr. Petra Thürmann) in derselben Session.

Diskussion: Beobachtungen der Arzneimittelanwendung im Psychopharmakabereich haben eine relativ lange Tradition. Die wesentlichen Forschungsfelder, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung identifiziert wurden, ergänzen einander zu einem umfassenden Abbild eines ganzen Therapiegebietes: Erst die Gesamtheit aus klinischen Studien, aus der Beobachtung der Arzneimittelanwendung am Patienten durch den Behandler, aus der Versorgungsforschung und der Nutzenbewertung gestattet es, die Qualität und die Erfolgsaussichten von psychopharmakotherapeutischen Therapiestrategien und ihrer Ingredienzien – nämlich der Arzneimittel selbst – in toto zu erfassen.

Praktische Implikationen: Sowohl aus Forschungs- wie aus Anwendungssicht sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich pharmakotherapeutische Interventionen, insbesondere in der Psychopharmakotherapie, erst dann in Gänze beurteilen lassen, wenn Erkenntnisse zu allen Facetten der Arzneimitteltherapie vorliegen, von der klinischen Wirkung über Nebenwirkungen, vom Einsatz und der Anwendung unter Alltagsbedingungen über die Inanspruchnahmemodalitäten bis hin zum populationsbezogenen Nutzen. (Versorgungs-)Forscher wie Anwender sollten ihre Forschungs- bzw. Therapieziele dieser Logik entsprechend ausrichten und – beispielsweise unter Rückgriff auf Daten und Erkenntnisse aus dem Routineeinsatz von Psychopharmaka – zu einer Strategiebildung gelangen.


Literatur

1.
Linden M, Gothe H. Benzodiazepine Substitution in Medical Practice. Analysis of Pharmacoepidemiologic Data Based on Expert Interviews. Pharmacopsychiatry. 1993;26:107-13.
2.
Linden M, Gothe H. Specialty Training and the Personal Use of Benzodiazepines by Physicians Affect their Proneness to Prescribe Tranquilizers. Pharmacopsychiatry. 1998;31:42-7.
3.
Gothe H, Linden M. Fluoxetin – Ergebnisse einer Anwendungsbeobachtung. Das Problem des vorzeitigen Therapieabbruchs. Psychopharmakotherapie. 1997;4:36-9.
4.
Linden M, Gothe H, Dittmann RW, Schaaf B. The Early Termination of Antidepressant Drug Treatment. Results of Repeated Post-marke-ting Surveillance Studies with Fluoxetine. Journal of Clinical Psychopharmacology.2000;20(5):523-30.
5.
Gothe H, Klein S, Storz P, Höer A, Haag C, Marx P, Häussler B. Erkenntnisse zur Arzneimitteltherapie im Zeitverlauf: Frühe Ergebnisse und späte Umsetzung? – Retrospektive Untersuchung für ausgewählte Arzneimittel-Wirkstoffgruppen. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft; 2010.