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Veröffentlicht: | 20. August 2024 |
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Gliederung
Zusammenfassung
Hintergrund: Die Rate der Misshandlung (Misshandlung (psychischer, physischer und sexueller Missbrauch) und Vernachlässigung (unterlassene Beaufsichtigung und Fürsorge) bei Kindern mit chronischer Behinderung ist mindestens dreimal so hoch im Vergleich zur Normalbevölkerung. Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) und Hörbeeinträchtigungen haben aufgrund ihres erhöhten Betreuungsbedarfes und der potenziellen Komorbidität zu anderen Entwicklungsstörungen ein besonders hohes Risiko, von einer elterlichen Überforderung betroffen zu sein – eine Domäne der Primärprävention. Zahlreiche Studien zeigen aber auch, dass Kommunikationsstörungen sich nach Kindeswohlgefährdung entwickeln oder durch die Kindeswohlgefährdung verstärken können. Negative Kindheitserfahrungen, sogenannte „Adverse Childhood Experiences“ (ACEs) werden mit negativen und bis in das Erwachsenenalter anhaltenden Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden in Verbindung gebracht. ACEs sind bei gehörlosen Menschen doppelt so hoch wie bei normalhörenden festzustellen. Die Folgen zu spät diagnostizierter kindlicher Schwerhörigkeiten und SES können daher für die Betroffenen schweres individuelles Leid sowie hohe Krankheitskosten verursachen.
Ziele: In Deutschland muss von einer hohen Dunkelziffer nicht angezeigter Kindesmisshandlungen ausgegangen werden. Warum also leisten wir uns als Ärzteschaft bei Misshandlung und Vernachlässigung ein so großes Dunkelfeld, so viele verpasste Präventionschancen? Eine transsektorale interdisziplinäre Vernetzung ist entscheidend, wenn wir die ganzheitliche Versorgung von Opfern von Kindesmisshandlung verbessern wollen. Eine verlässliche Datenbasis für Kindesmissbrauch und Komorbiditäten (wie z.B. Kommunikationsstörungen) muss etabliert, Screeninginstrumente müssen entwickelt und implementiert, transsektorale und interdisziplinäre Versorgungskonzepte wissenschaftlich evaluiert werden. Eine Beteiligung an der Neuauflage der Kinderschutz S3+-Leitlinie durch die DGPP ist vorgesehen.
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Hintergrund
Die Rate der Misshandlung (psychischer, physischer und sexueller Missbrauch) und Vernachlässigung (unterlassene Beaufsichtigung und Fürsorge) bei Kindern mit chronischer Behinderung ist mindestens dreimal so hoch im Vergleich zur Normalbevölkerung [1]. Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) und Hörbeeinträchtigungen haben aufgrund ihres erhöhten Betreuungsbedarfes und der potenziellen Komorbidität zu anderen Entwicklungsstörungen ein besonders hohes Risiko, von einer elterlichen Überforderung und damit von einer Misshandlung betroffen zu sein – eine Domäne der Primärprävention. Kommunikationsstörungen und Kindeswohlgefährdung korrelieren wechselseitig: Kommunikationsstörungen erhöhen zum einen das Risiko für eine Kindeswohlgefährdung, zum anderen können sie sich aber auch nach Kindeswohlgefährdung entwickeln oder durch die Kindeswohlgefährdung verstärken.
Verschiedene Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Kindesmisshandlung und Sprache [2], [3]. Besonders vulnerabel für Kindesmissbrauch erscheinen Kinder, die sich in der frühen, sehr sensiblen Phase des Spracherwerbs, in den sensiblen Zeitfenstern für die Entwicklung des Wortschatzes und der Grammatik befinden [3]. Dies ist besonders vor dem Hintergrund bedeutsam, dass die Aufklärung sexualisierter Gewalt gegen Kinder häufig auf Äußerungen der Kinder angewiesen ist – körperlich wegweisende Befunde sind eher selten [4], [5]. Die Studienlage ist jedoch uneinheitlich, die zugrunde liegenden Mechanismen sind nicht bekannt [6]. Eine systematische Übersichtsarbeit analysiert die methodische Heterogenität der vorliegenden Studien und wendet dabei einen auf der Spracherwerbstheorie basierenden Ansatz an. Möglicherweise kann eine Untersuchung grammatikalischer Fähigkeiten bessere Verdachtsmomente liefern als der Wortschatzumfang. Die Heterogenität der Studienteilnehmer*innen, die nicht der Leitlinien entsprechenden Sprachstandserhebungen, die häufig nicht mehrdimensional erfolgte Bewertung der Misshandlungsformen und die fehlende Berücksichtigung von Art und Schweregrade der Misshandlung machen die Analyse eines Zusammenhanges derzeit nicht möglich [6]. Ein aktueller Übersichtsartikel [7] beleuchtet die bisher weniger bekannten Auswirkungen auf den sprachlichen Bereich der Pragmatik. Die Autorin schlussfolgert, dass Kindesmisshandlung einen Einfluss auf die sozialpragmatische Kommunikation, wie z.B. soziale Kognition, exekutive Funktionen, Affekt/Verhalten/Selbstregulation, pragmatische Sprache und Arbeitsgedächtnis hat. Die meisten Screening-Instrumente für Sprachentwicklungsstörungen (SES) wurden für Kinder in der Allgemeinbevölkerung entwickelt in der Annahme, dass es sich um primäre Störungen handelt. Für Kinder mit sekundär nach Missbrauch entwickelter SES fehlen sensible Screeninginstrumente, insbesondere zur Berücksichtigung potenziell ursächlicher psychischer Traumatisierung. Es fehlen Differenzierungsinstrumente zwischen primärer und sekundärer SES. Zudem sind diese SES den bisher gängigen Therapien nicht zugänglich.
Kindesmisshandlung wirkt sich aber nicht nur auf die Sprache, sondern auf auf alle anderen Bereiche der Entwicklung aus. So werden seit den 1990ern Kindesmisshandlungen mit einem deutlich erhöhten Risiko für negative gesundheitliche Folgen im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht [8], [9]. Die von der Gruppe um Felitti initiierte Forschung zu sog. „adverse childhood experiences“(ACEs) (dt. belastende Kindheitserfahrungen). war und ist nach wie vor bahnbrechend und richtungsweisend. Eine höhere Inzidenz von ACEs wird mit einem signifikant erhöhten Risiko für vielgestaltige Langzeitfolgen im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht. Es kommt zu einer Beeinträchtigung neurologischer, kognitiver und entwicklungspsychologischer Funktionen [10]. Morbidität und Mortalität sind erhöht. Bei gehörlosen Menschen kommen ACEs doppelt so häufig vor wie bei normalhörenden [11]. Hörende und nicht gebärdende Eltern (der Großteil der Kinder mit einer angeborenen Schwerhörigkeit wächst in hörenden Familien auf), „Peers“ und Pädagog*innen und chronische Beeinträchtigungen, die teilweise spät diagnostiziert werden, da sie sich zunächst dem medizinischen „Blick“ entziehen, da augenscheinlich nicht auffällig, erschweren oder verhindern innerhalb des jeweiligen Schutzortes (Familie, Freundeskreis und Bildungs- oder Kulturstätte) den Zugriff auf die natürliche Gebärdensprache. Diese könnte bei früh- und rechtzeitiger Diagnose zumindest als erwerbbare Erstsprache zur Verfügung stehen und das Risiko minimieren, dass der Schutzort zum Tatort wird. Durch die lautsprachliche Kommunikationseinschränkung erleben viele gehörlose Menschen ihren Alltag als nicht barrierefrei, sich selbst außerhalb des eigenen Gehörlosen-Kulturkreises sozial isoliert; der oft eingeschränkte Zugang zu Informationen verstärkt das Risiko für Formen der Misshandlung bis in das Erwachsenenalter [12]. In der analytischen Querschnittsstudie von Hall et al. [11] werden erstmalig demografische Faktoren erfasst, die das Risiko für ACEs in diesen Gruppen erhöhen. Fast die Hälfte der eingeschlossenen CI-Träger*innen erhielt das CI nach dem 5. Lebensjahr. Damit können die Autor*innen keine Aussage über eine Korrelation von Alter der CI-Versorgung und Höhe der ACEs treffen.
Ziele
Es muss von einer hohen Dunkelziffer nicht erkannter Misshandlungen ausgegangen werden. Die Etablierung einer verlässlichen Datenbasis für die Komorbidität von verschiedenen Misshandlungsformen, Schwerhörigkeit und SES ist sinnvoll. Die Entwicklung und der Einsatz psychosozialer Screeninginstrumente mit einer hohen Sensitivität und Spezifität zur Identifizierung von Risikofaktoren, psychischen Auffälligkeiten und Gewalterleben sind unabdingbar [13], [Winter, persönlicher Austausch 2024].
Literatur
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