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40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 15.09.2024, Berlin

Grundlagen und Empfehlungen zu Gebärden und Gebärdensprachen für die ärztliche und therapeutische Beratung

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Karen Reichmuth - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Cochlea Implantat Centrum Münsterland, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • author Katrin Neumann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Cochlea Implantat Centrum Münsterland, Universitätsklinikum Münster, Deutschland

40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Berlin, 12.-15.09.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. DocV34

doi: 10.3205/24dgpp45, urn:nbn:de:0183-24dgpp456

Veröffentlicht: 20. August 2024

© 2024 Reichmuth et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: In der ärztlichen und therapeutischen Elternberatung zu Maßnahmen in der Frühintervention und Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen sind Kenntnisse über die unterschiedlichen Formen von Gebärden als pädagogische und therapeutische Hilfsmittel notwendig, sowie zu ihrem evidenz-basierten Einsatz bei unterschiedlichen Störungsbildern.

Material und Methoden: Es erfolgte die systematische Sichtung der S3-Leitlinie zur „Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen (SES)“ (Neumann et al. 2022) zum Einsatz von Formen der Gebärden und von Gebärdensprache in Sprachtherapie und Frühintervention, sowie zu Empfehlungen zum Einsatz und dem Vorliegen von Evidenzen.

Ergebnisse: Es wird unterschieden zwischen lautsprachunterstützenden Gebärden (LUG) als Mittel der Unterstützten Kommunikation (UK), lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG), sowie Lautgebärden. Gebärdensprachen als linguistisch vollwertige Sprachen müssen von diesen Gebärdenformen abgegrenzt werden, die keine Sprachen, sondern therapeutische und pädagogische Hilfsmittel sind. Bei Sprach- und Kommunikationsstörungen assoziiert mit Komorbiditäten wie Syndromen, Mehrfachbehinderungen, Intelligenzminderungen und Hörstörungen werden der differenzierte Einsatz dieser unterschiedlichen Gebärden in Frühintervention und Sprachtherapie, sowie bei alltags- und unterrichtsintegrierter Intervention und Prävention bei Kindern mit SES ohne Komorbiditäten berichtet. Evidenzen, soweit vorhanden, werden dargelegt. Die Vermittlung einer vollwertigen Gebärdensprache ist keine Aufgabe der Sprachtherapie.

Diskussion: Eltern sollen in der ärztlichen und therapeutischen Beratung fundierte und sachliche Informationen zu spezifischen Interventionsmethoden und dazu vorliegenden Evidenzen zur Behandlung der Sprach- und Kommunikationsstörung ihres Kindes erhalten. Die S3-Leitlinie vermittelt dafür einen differenzierten Kenntnisstand auch zu Formen der Gebärden als therapeutische und pädagogische Hilfsmittel in der Intervention und die Abgrenzung zu einer vollständigen Gebärdensprache. Eltern von Kindern mit hochgradigen Hörstörungen sollen sachlich und ergebnisoffen über Optionen zu Laut- und Gebärdenspracherwerb beraten werden. Limitationen der Leitlinienempfehlungen werden skizziert.

Fazit: Die S3-Leitlinie vermittelt notwendige Grundlagen zum Thema Gebärden für die ärztliche und therapeutische Beratung.


Text

Hintergrund

In der ärztlichen und therapeutischen Elternberatung zu Maßnahmen in der Frühintervention und Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen (SES) sind Kenntnisse über die unterschiedlichen Formen von Gebärden als pädagogische und therapeutische Hilfsmittel notwendig, ebenso zu ihrem evidenzbasierten Einsatz bei unterschiedlichen Störungsbildern.

Material und Methoden

Es erfolgte eine systematische Sichtung der S3-Leitlinie „Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen“ [1] zum Einsatz von Formen der Gebärden und von Gebärdensprache in der Sprachtherapie bzw. Frühintervention sowie zu Empfehlungen zu ihrem Einsatz und dem Vorliegen diesbezüglicher Evidenzen.

Ergebnisse

Es wird unterschieden zwischen lautsprachunterstützenden Gebärden (LUG; (Schlüsselwörter werden gebärdet), lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG; Wort-für-Wort-Gebärden zur Visualisierung der Lautsprache und ihrer Grammatik) sowie Lautgebärden (am Phonem orientierte Handzeichen). Gebärdensprachen als natürliche und linguistisch vollwertige Sprachen müssen von diesen Gebärdenformen abgegrenzt werden. LUG, LBG und Lautgebärden sind keine Sprachen, sondern therapeutische und pädagogische Hilfsmittel. Die in der LUG und LBG verwendeten Gebärden sind oft Gebärdensprachen entnommen [2], [3].

LUG werden als eine Methode der UK (Unterstützten Kommunikation) in Interventionen bei Sprach- und Kommunikationsstörungen verwendet, oft auch als Teil eines multimodalen Ansatzes, zusammen mit anderen UK-Mitteln. International und national liegen verschiedene LUG-Gebärdensammlungen vor. Im Bereich der UK kommen auch taktile Gebärden der Taub-Blindenpädagogik zum Einsatz. Einen Überblick geben Appelbaum und Schäfer [3]. Die Leitlinie [1] postuliert allgemein, dass „Kinder und Jugendliche auf UK angewiesen sind, wenn sie (vorübergehend oder permanent) von einer tiefgreifenden Beeinträchtigung ihrer rezeptiven und expressiven Kommunikationsfähigkeiten und deren Entwicklung bedroht oder betroffen sind und dadurch ein Risiko oder Einschränkungen für ihre Teilhabe am sozialen Leben bestehen.“ (S. 220, [1]). Die vorliegende Studienlage zur Evidenz von UK-Interventionen für Kindern mit SES mit Komorbiditäten wie Intelligenzminderung, Syndromen und Mehrfachbehinderungen als sehr heterogener Zielgruppe erlaubt noch keine abgesicherten, evidenzbasierten Therapieempfehlungen. Die Ergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass Interventionen mit UK (u.a. auch LUG) eine Verbesserung der kommunikativen Kompetenz und der sprachlichen Fähigkeiten bewirken können. Sie sollen daher in der Sprachtherapie eingesetzt werden, eingebettet in eine kind- und elternzentrierte Intervention, mit Stärkung der Eltern-Kind-Interaktion und Anleitung der engsten Bezugspersonen zur Nutzung der UK im Alltag [1].

LBG dagegen werden vorwiegend in der Fachpädagogik für Hören und Kommunikation bei Kindern mit Hörstörungen eingesetzt [1], [2]. In der Leitlinie erfolgte keine systematische Suche nach vorliegenden Evidenzen für den Einsatz von LBG oder LUG für die Lautsprachentwicklung bei Kindern mit Hörstörungen ohne Zusatzbeeinträchtigungen. Die für diese Zielgruppe vorliegenden systematischen Reviews und vergleichenden Interventionsstudien weisen bisher weder einen eindeutigen Nutzen noch einen Schaden durch den Einsatz von LBG oder LUG nach [1]. Die Vermittlung einer vollwertigen Gebärdensprache ist keine Aufgabe der Sprachtherapie und keine Leistung der Krankenkasse. Anträge auf Hausgebärdensprachkurse können Eltern für sich (beim Jugendamt) oder ihr Kind mit mindestens hochgradiger Hörstörung (beim Sozialamt) stellen, wenn sie eine bimodale Bilingualität wünschen oder der Gebärdenspracherwerb beim Kind indiziert ist [1].

Der Einsatz von Lautgebärden wird in der Leitlinie als alltags- und unterrichtsintegrierte Maßnahmen für Kinder mit SES im Schulanfangsunterricht zur Visualisierung und zur Unterstützung im Schriftspracherwerb empfohlen [1].

Diskussion

Eltern benötigen eine fundierte und sachliche ärztliche und therapeutische Beratung zu spezifischen Interventionsmethoden und dazu vorliegenden Evidenzen, die zur Behandlung der Sprach- und Kommunikationsstörung ihres Kindes vorhanden sind. Dazu gehören der differenzierte Kenntnisstand zu Formen der Gebärden als therapeutische und pädagogische Hilfsmittel in der Intervention und die Abgrenzung zu einer vollständigen Gebärdensprache. Eltern von Kindern mit hochgradigen Hörstörungen sollen sachlich und ergebnisoffen über die Optionen zum Laut- und Gebärdenspracherwerb beraten werden.

Fazit

Die S3-Leitlinie [1] vermittelt notwendige Grundlagen zum Thema Gebärden für die ärztliche und therapeutische Beratung.


Literatur

1.
Neumann K, Kauschke C, Lüke C, Fox-Boyer A, Sallat S, Euler HA, Kiese-Himmel C, Mitglieder der Leitliniengruppe. Therapie von Sprachentwicklungsstörungen - Interdisziplinäre S3-Leitlinie. AWMF-Registernr. 049-015, Version 1. Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP); 2022. Verfügbar unter: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/049-015 Externer Link
2.
Reichmuth K. Gebärdensprache, Lautsprache und Gebärde, Gesten - ein einführender Überblick. In: Wachtlin B, Bohnert A, editors. Kindliche Hörstörungen in der Logopädie. Stuttgart: Thieme; 2018. S.140-4.
3.
Appelbaum B, Schäfer C. Lautsprachunterstützende Gebärden in der UK. In: Boenisch J, Sachse SK, editors. Kompendium Unterstützte Kommunikation. Stuttgart: Kohlhammer; 2020. S. 117-24.