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Wirksamkeitsvergleich von intensiver phoniatrischer Akutintervention, Stimmtherapie und Psychotherapie bei psychogener Aphonie und Dysphonie – Pilotdaten und Methodologie eines RCT
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Veröffentlicht: | 20. August 2024 |
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Gliederung
Zusammenfassung
Hintergrund: Psychogene Stimm- und Sprachstörungen können organische Störungsbilder imitieren und treten häufig als Dysphonie, Stottern oder prosodische Anomalien auf. In der Literatur werden extensive Stimmtherapie und Psychotherapie als Therapie der Wahl beschrieben. Diese sind jedoch in vielen Fällen frustran. Diese Störungen sind klinisch sehr heterogen, und relevante Risikofaktoren sind Distress, psychische Belastungen oder belastende Lebensereignisse. Betroffen sind hauptsächlich Frauen.
Material und Methoden: Die intensive phoniatrische Akutintervention (IPA) wurde in einem Pilotkollektiv von N=41 Patient*innen angewandt. Die IPA stellt eine Form der in Verruf geratenen „Überrumpelungsstrategien“ in neuer Kombination mit Lokalanästhesie, Körperübungen, Pseudolaryngoskopie und anderen Techniken dar, die im klinischen Alltag entwickelt und erprobt wurden. Nach der IPA wurden die Behandelten entlassen und nach ca. 2 Wochen telefonisch zur Verlaufskontrolle kontaktiert.
Ergebnisse: Etwa 80% der Behandelten zeigten nach der Behandlung eine sofortige Normalisierung der Stimme. Eine Therapieresistenz sowie eine Restdysphonie wiesen jeweils etwa 10% auf, wobei letztere einer weiteren IPA oder logopädischen Therapie unterzogen wurden. Gut 90% der erfolgreich Therapierten zeigten sich auch im Rahmen der Verlaufskontrolle euphon. Langfristige Daten fehlen.
Diskussion: Aufgrund der deutlichen therapeutischen Überlegenheit der IPA gegenüber der konventionellen Therapie wurde ein RCT designt, der neben der Wirksamkeit mit angenommenen Effektstärken von 0,8 für die Akutintervention und 0,2 für die Psychotherapie auch mögliche neurophysiologische Korrelate (fMRT-Bildgebung und diffusionsgewichtete Messung von Fasertrakten) untersuchen wird. Hierbei werden auch Langzeiteffekte der IPA sowie die Zufriedenheit erhoben. In einem zweiten Studienarm wird die Wahrnehmung der Patient*innen, die bereits die IPA erhalten haben, retrospektiv untersucht.
Fazit: Die ermutigenden Ergebnisse der IPA legen nahe, dass es sinnvoll ist, ältere phoniatrische Techniken zu reaktivieren und zu optimieren, um extensive und teils frustrane konventionelle Therapien zu vermeiden. Die IPA ist bei klarer Diagnose einer psychogenen Stimm- und/oder Sprechstörung eine probate Option. Behandler*innen müssen Erfahrung mit dem Krankheitsbild und der Interventionsform haben.
Text
Hintergrund
Psychogene Stimm- und Sprachstörungen sind gemäß ICD-11 den dissoziativen Bewegungsstörungen zuzuordnen. Sie können organische Störungsbilder imitieren und treten häufig als Dysphonie, Stottern oder prosodische Anomalien auf. In der Literatur und Leitlinie werden die extensive Stimmtherapie und Psychotherapie als Therapie der Wahl beschrieben. Diese sind jedoch in vielen Fällen frustran. Diese Störungen sind klinisch sehr heterogen, und relevante Risikofaktoren sind Distress, psychische Belastungen oder belastende Lebensereignisse. Betroffen sind hauptsächlich Frauen [1].
Unterschiedliche Verfahren der phoniatrischen Intervention (z.B. die Muck’sche Kugel) sind der Literatur bereits beschrieben worden. Die Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie entwickelte diese historischen Therapieansätze in den letzten Jahren als intensive phoniatrische Akutintervention (IPA) weiter und zeigte bereits ihre potenziell große Wirksamkeit in Fallbeispielen [2]. Die Pathophysiologie dieser Sonderform der dissoziativen Bewegungsstörungen ist ungeklärt. Es gibt jedoch Hinweise Funktionsabweichungen von emotionsverarbeitenden neuronalen Netzwerken sowie des primären motorischen und des primären somatosensorischen Kortex [3].
In der Literatur bestehen mehrere Theorien bezüglich der neurologischen Prozesse, die zur Entstehung einer dissoziativen Stimmstörung beitragen können.
Material und Methoden
Die intensive phoniatrische Akutintervention (IPA) wurde in einem Pilotkollektiv von N=41 Patient*innen angewandt. Es handelt sich dabei um eine ein- bis maximal zweimalige 1- bis 3-stündige konservative therapeutische Intervention. Die IPA stellt eine Form der in Verruf geratenen „Überrumpelungsstrategien“ in neuer Kombination mit Lokalanästhesie, Körperübungen, Pseudolaryngoskopie und anderen Techniken dar, die im klinischen Alltag entwickelt und erprobt wurden. Nach der IPA wurden die Behandelten entlassen und nach ca. 2 Wochen telefonisch zur Verlaufskontrolle kontaktiert.
Ergebnisse
Etwa 80% der Behandelten zeigten nach der Behandlung eine sofortige Normalisierung der Stimme. Eine Therapieresistenz sowie eine Restdysphonie wiesen jeweils etwa 10% auf, wobei letztere einer weiteren IPA oder logopädischen Therapie unterzogen wurden. Gut 90% der erfolgreich Therapierten zeigten sich auch im Rahmen der Verlaufskontrolle euphon. Langfristige Daten fehlen derzeit noch.
Diskussion
Die Pilotdaten zur Wirksamkeit legen eine therapeutische Überlegenheit der IPA gegenüber der konventionellen Therapie nahe. Um die Effektstärken der beiden Therapieformen zu vergleichen wurde in der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie des Universitätsklinikums Münster ein RCT designt. Hierbei werden auch Langzeiteffekte der IPA sowie die Zufriedenheit erhoben.
Neben der Wirksamkeit mit angenommenen Effektstärken von 0,8 für die IPA und 0,2 für die Psychotherapie werden hierbei auch mögliche neurophysiologische Korrelate mittels fMRT und MR-Spektroskopie (MRS) analysiert. Der Stoffwechsel der Neurotransmitter GABA und Glutamat zweigte in der 1H MRS auch bei anderen (neuro-) psychiatrischen Krankheitsbildern gegenüber Kontrollgruppen verändert. Es werden daher auch bei den dissoziativen Stimmstörungen (bzw. psychogenen Stimmstörungen) MRS-Korrelate erwartet.
Fazit
Die ermutigenden Ergebnisse der IPA legen nahe, dass es sinnvoll ist, ältere phoniatrische Techniken zu reaktivieren und zu optimieren, um extensive und teils frustrane konventionelle Therapien zu vermeiden. Die IPA ist bei klarer Diagnose einer psychogenen Stimm- und/oder Sprechstörung eine probate Option. Es bedarf der Ermittlung der genauen Effektstärken der IPA gegenüber dem psychotherapeutischen Therapieansatz sowie der Langzeitwirkung der IPA im Rahmen der geplanten Studie. Ferner gibt der geplante Untersuchungsansatz möglicherweise differenzierte Aufschlüsse über die bisher unklare Pathogenese des Störungsbildes. Sollte sich die Tendenz der hohen Wirksamkeit der hier vorgestellten Pilotdaten im RCT sichern lassen, wäre die IPA eine Option, PatientInnen und Gesundheitssystem vor extensiven und möglicherweise frustranen Therapiephasen zu schützen. Dies hätte neben dem positiven Effekt auf die soziale Teilhabe auch eine volkswirtschaftliche Relevanz, da teure, stationäre Rehabilitationen und mögliche Erwerbsunfähigkeiten gegebenenfalls vermieden werden könnten.
Literatur
- 1.
- Bader CA, Schick B. Psychogene Aphonie. Eine schwierige Diagnose [Psychogenic aphonia. A challenging diagnosis?]. HNO. 2013 Aug;61(8):678-82. DOI: 10.1007/s00106-013-2726-z
- 2.
- Mathmann P, Neumann K. Intervention bei einer psychogenen Stimm- und Sprechstörung. Sprache Stimme Gehör. 2023;47(01):13-5. DOI: 10.1055/a-1930-8435
- 3.
- Cai H, Dong J, Mei L, Feng G, Li L, Wang G, Yan H. Functional and structural abnormalities of the speech disorders: a multimodal activation likelihood estimation meta-analysis. Cereb Cortex. 2024 Mar;34(3):bhae075. DOI: 10.1093/cercor/bhae075