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Vergleichbarkeit der Resonanzeigenschaften und Ökonomiestrategien von 6 Stimmqualitäten bei 4 Sänger*innen
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Veröffentlicht: | 20. August 2024 |
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Gliederung
Zusammenfassung
Hintergrund: Bei verschiedenen Stimmqualitäten konnten in einer Pilotstudie unterschiedliche Resonanzeigenschaften und, damit einhergehend, Ökonomiestrategien quantifiziert werden. Es ist jedoch unklar, ob dies eine rein individuelle Vorgehensweise widerspiegelt, oder ob sich ein vergleichbares Vorgehen bei Sänger*innen einheitlicher Stimmschulen zeigt.
Material und Methoden: Estill Voice Training® (EVT®) definiert sechs Stimmqualitäten (Belting, Twang, Speech, Falsetto, Opera und Sob), welche sowohl in den populären Stilen als auch dem westlich klassischen Gesang zum Einsatz kommen. Sie sollen durch gezieltes, unabhängigkeitsförderndes Training einzelner Strukturen des Gesangsapparates gebildet werden. In dieser Studie wurden MRT-basierte 3D-Modelle der Vokaltraktkonfiguration von vier professionellen Sänger*innen mit einer hohen Qualifikation in EVT® erstellt. Die Sänger*innen phonierten dabei in den sechs Qualitäten auf verschiedenen Tonhöhen und Vokalen. Um die Schallübertragungsfunktion zu berechnen, wurde die Finite-Elemente-Methode genutzt. Für die Quantifizierung der Effizienz verschiedener Qualitäten wurden Daten der Finite-Elemente-Modelle, Audioaufnahmen und Elektroglottografien (EGG) herangezogen.
Ergebnisse: Die Analyse der Vokaltraktkonfigurationen und der akustischen Eigenschaften zeigt drei Grundkonfigurationen (Neutral-, Megaphon- und Anti-Megaphon/Sanduhrkonfiguration). Grundsätzlich bestehen große Übereinstimmungen zwischen den Konfigurationen der gleichen Qualität unterschiedlicher Sänger*innen, und interindividuelle Unterschiede können weniger auf das Geschlecht als auf die trainierte Gesangsstilistik zurückgeführt werden. Einige der untersuchten Qualitäten wie z.B. Belting und Opera zeigen akustische Verstärkungen der harmonischen Energien in psychoakustisch relevanten Regionen (2–4 kHz), was einen Gewinn an subjektiver Lautheitswahrnehmung darstellt. Andere Qualitäten zeigen keine spezifischen Verstärkungsstrategien.
Diskussion: Die sechs Stimmqualitäten zeigten deutliche Unterschiede in ihrer Effizienz, die sowohl von der Vokaltraktkonfiguration als auch von der Charakteristik der Stimmquelle beeinflusst werden. Die hohen Übereinstimmungen der Vokaltraktkonfigurationen lassen eine Erlernbarkeit der bewussten Formung des Vokaltraktes vermuten.
Fazit: Mit dem Wissen über verschiedene Vokaltraktkonfigurationen, deren Effizienz und Auswirkung auf den Stimmklang, kann das Training eines effizienten Gebrauchs des Stimmapparates unterstützt werden und so Überlastungen vermieden werden.
Text
Einleitung
Eine Stimmproduktion kann als effizient definiert werden, wenn das Verhältnis von Schalldruckpegel im Vergleich zur aufgewendeten Energie und der biomechanischen Belastung des Gesangsapparates hoch ist. Effizienz wird durch die Atemstrategie, die Stimmquelle und die Akustik des Vokaltraktes (VT) [1] sowie deren Wechselwirkungen [2] beeinflusst. Unabhängig der Verstärkung durch ein Mikrofon gibt es in allen Gesangsrichtungen eine große Bandbreite der Dynamik, die vor allem im westlich klassischen Gesang und Belting sehr hohe Lautstärkepegel erfordert [3]. Eine weniger effiziente Strategie zur Erzielung hoher Stimmleistung steigert das Risiko einer Überlastung der Stimme.
In einer Pilotstudie [4] konnten unterschiedliche Resonanzeigenschaften und Ökonomiestrategien für 6 Stimmqualitäten (Speech, Falsetto, Sob, Oral Twang, Opera und Belting) nach Estill Voice Training® – EVT® [5] quantifiziert werden. Es wurde ein Maß für die akustische Schallintensität an der Glottis in Abhängigkeit von VT-Konfigurationen und Stimmlippenschwingungen vorgeschlagen [4]. Um festzustellen ob dies eine individuelle Vorgehensweise oder ein vergleichbares Vorgehen bei Sänger*innen einheitlicher Stimmschulen widerspiegelt, wird in dieser Studie die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf weitere in EVT® geschulte Singende, beginnend mit den VT-Konfigurationen und akustischen Eigenschaften, analysiert.
Methoden
Vier professionelle Sänger*innen (zwei Frauen – P1 & P3, zwei Männer – P2 & P4) mit hohem Qualifikationsniveau in EVT® wurden gebeten den Vokal [a:] in 6 Stimmqualitäten auf G#4 (415 Hz) für Frauen und G#3 (207 Hz) für Männer während 3D-MRT-Aufnahmen des VT wie in [6] beschrieben zu phonieren. Die Segmentierung der MRT-Daten, die Implementierung von Zahnmodellen, die Aufbereitung des Modells für die Berechnung der akustischen Eigenschaften in den Übertragungsfunktionen durch Finite-Elemente-Modellierung erfolgte wie in [7] beschrieben. Teilvolumina wurden anhand anatomischer Orientierungspunkte definiert und analysiert [8]. Die Länge des VT wurde nach [9] bestimmt.
Ergebnisse
Grundsätzlich zeigten sich starke Ähnlichkeiten in der VT-Konfiguration der 6 Stimmqualitäten bei den 4 Sänger*innen (Abbildung 1 [Abb. 1]). Belting und Twang wiesen eine ähnliche Konfiguration auf, die mit hypopharyngealer Verengung und trompetenförmiger Verbreiterung im Oropharynx (OP) bei hohem OP-Volumen und geringer VT-Länge einherging (Megaphonkonfiguration). Opera und Sob hingegen waren durch eine Konfiguration ähnlich einer Sanduhr mit hypopharyngealer Weitung, einer Engstelle im mittleren Pharynx und moderater Erweiterung der Mundräume sowie tiefer Kehlkopfposition, somit entsprechend reduziertem OP-Volumen, gekennzeichnet. Dies war bei Sob stärker ausgeprägt als bei Opera. Falsetto und Speech zeigten dagegen eine mittlere Länge und Konfiguration sowie die höchste individuelle Varianz.
Die Anhand der VT-Konfiguration getroffene Gruppierung findet sich auch in den akustischen Eigenschaften wieder (Abbildung 2 [Abb. 2]). Dies zeigt sich u.a. an der mit den Stimmqualitäten einhergehenden Vokalfarben: Opera/Sob: Frequenz der ersten und zweiten Resonanz (ƒR1/2) niedrig, dunkle Vokalfarbe; Belting/Twang: ƒR1/2 hoch, helle Vokalfarbe. Bei P1 & P3 ist eine starke Assoziation von ƒR1/2 in Bezug auf ƒo und 2ƒo zu beobachten.
Die Transferfunktion (TF) von Opera zeigt bei allen Proband*innen ein Formantcluster mit einem Peak zwischen 3–4 kHz. Sob weist in diesem Bereich hingegen Antiresonanzen auf. Die TF der Megaphon-VT-Gruppe sind durch einen grundsätzlich geringen Energieverlust gekennzeichnet. Teilweise treten jedoch auch hier Antiresonanzen z.B. im Oral Twang von P1 und P2 sowie im Belting von P3 auf. Bei Falsetto und Speech zeigen sich bei P1 neutrale Übertragungsfunktionen ohne spezifische Resonanzstrategien. Bei P2 ähneln die Graphen der Funktion von Opera, und bei P3 und P4 nähern sie sich den Funktionen von Twang und Belting an.
Diskussion
Die VT der Sänger*innen zeigten eine für die jeweilige Stimmqualität charakteristische Konfiguration mit hoher interindividueller Übereinstimmung in der volumetrischen Analyse, sodass die Modelle den Gruppen Megaphon (Belting/Twang), Neutral (Speech/Falsetto) [10] oder Sanduhrförmig (Opera/Sob) zugeordnet werden können. Die Gruppeneinteilung der VT-Konfiguration lässt sich auch auf die akustischen Eigenschaften anwenden. Für die weiblichen Probanden (P1 & P3) kann ein Effizienzgewinn für die Assoziation von ƒR1 mit ƒo für Opera und Sob und von ƒR1 mit 2ƒo für Belting und Twang diskutiert werden. Hierdurch werden die stärksten Teiltöne des Primärspektrums verstärkt und somit die stimmliche Intensität unterstützt.
Eine Verstärkung der harmonischen Energie im psychoakustisch relevanten Bereich von 2–4 kHz war bei Opera und Belting (für alle Probanden außer P1) sowie Twang (für P3 & P4) ausgeprägt. Im Gegensatz dazu zeigte Sob in diesem Bereich Antiresonanzen. Für Falsetto/Speech waren interindividuelle Unterschiede in der Übertragungsfunktion erkennbar. Diese zeigten keine spezifische Strategie zur Verstärkung der akustischen Energie oder Tendenz zu Megaphon- oder Sanduhr-VT.
Da die Modelle mit Antiresonanzen im Bereich zwischen 2–4 kHz in der volumetrischen Analyse mit großen abhängigen Seitenräumen im Hypopharynx korrespondieren, scheint in Anlehnung an [11], [12] ein Zusammenhang zu bestehen. Die Tendenzen in den TF der neutralen Modelle Richtung Megaphon oder Sanduhr sind nicht geschlechtsspezifisch. Es scheint einen Zusammenhang zwischen dem bevorzugten und dadurch öfter trainierten Gesangsstil zu geben. Da der Klang von Speech und Falsetto vornehmlich durch die Änderung des Vibrationsmusters der Stimmlippen und der Taschenfaltenadduktion unterschieden werden soll [5], scheint der Formung des Vokaltraktes hier eine untergeordnete Rolle zuzukommen. Die Frage, inwieweit anatomische Merkmale dazu beitragen, dass eine bestimmte Qualität für einen Sänger oder eine Sängerin leichter zu erreichen ist, erfordert weitere Studien.
Schlussfolgerung
Die Studie zeigt, dass vier Sänger*innen derselben Schule hohe Übereinstimmungen in Bezug auf VT-Konfigurationen, Resonanzeigenschaften und die Effizienz von sechs verschiedenen Klangqualitäten aufweisen. Dies gilt insbesondere für Belting, Twang, Opera und Sob. Falsetto und Speech wiesen stärkere individuelle Variationen auf, was darauf hindeutet, dass diese Qualitäten weniger durch ihre akustischen Eigenschaften im Sinne der TF definiert sind. Belting, Twang und Opera wurden in Übereinstimmung mit [4] als besonders effizient identifiziert, da sie die akustische Energie in psychoakustisch relevanten Bereichen erhöhen. Bei Sob wurde ein Energieverlust durch das Auftreten von Antiresonanzen festgestellt, möglicherweise bedingt durch abhängige Seitenräume im Hypopharynx. Antiresonanzen bei einzelnen Übertragungsfunktionen in Twang und Belting lassen sich auch diesem Phänomen zuschreiben.
Die Aussagekraft dieser Studie ist aufgrund der geringen Probandenzahl begrenzt. Dennoch deutet Einheitlichkeit der Vokaltraktkonfigurationen und ihrer akustischen Eigenschaften bei der Reproduktion der sechs Stimmqualitäten durch die vier Sänger*innen einer Stimmschule darauf hin, dass es möglich sein kann, durch Training definierte Resonanzstrategien mit spezifischen Effizienzeigenschaften anzuwenden. Im nächsten Schritt ist eine zusätzliche Betrachtung der VT-Effizienz in Abhängigkeit von der Stimmquelle auf der Basis von [4] geplant.
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