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40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 15.09.2024, Berlin

Werden Therapien bei Sprachentwicklungsstörungen passgenau verordnet? Ergebnisse der Studie THESES

Vortrag

  • author presenting/speaker Sarah Koschmieder - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Sameer Alfakiani - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • corresponding author Denise Siemons-Lühring - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Corinna Gietmann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Philipp Mathmann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland
  • Lars Meyer - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland; Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Deutschland
  • Katrin Neumann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Deutschland

40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Berlin, 12.-15.09.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. DocV7

doi: 10.3205/24dgpp08, urn:nbn:de:0183-24dgpp087

Veröffentlicht: 20. August 2024

© 2024 Koschmieder et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Nach Erscheinen der S2k-Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen wurde seitens des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte der Verdacht geäußert, sie würde „Überdiagnose und Übertherapie“ befördern. Weitere Gründe für diese Annahme waren zeitweilig steigende Zahlen an Verordnungen von Sprachtherapie und Regressforderungen von Krankenkassen an kinder- und jugendärztliche Praxen wegen zu häufiger Sprachtherapie-Verordnungen. Schwierigkeiten bei der Sprachdiagnostik können u.a. darin bestehen, bei Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache oder aus einem anregungsarmen Umfeld, umgebungsbedingte Sprachauffälligkeiten, die keiner Sprachtherapie, sondern einer Sprachförderung bedürfen, von Sprachentwicklungsstörungen (SES) abzugrenzen. Daher untersuchte die hier berichtete Studie die Frage, ob bei Kindern, denen eine Sprachtherapie wegen einer SES verordnet worden war, einer umfassenden Diagnostik zufolge tatsächlich eine solche bestand.

Material und Methoden: Die Eltern von 150 Kindern im Alter von 3;0 bis 6;11 Jahren, im Durchschnitt 4;5 Jahren, die gerade eine Verordnung für Sprachtherapie wegen einer Sprachentwicklungsstörung erhalten hatten oder eine solche Therapie gerade begonnen hatten (maximal 10 Therapieeinheiten absolviert), wurden zu einer umfänglichen Sprach-, audiologischen und Entwicklungsdiagnostik ihres Kindes eingeladen. Die Rekrutierung fand in pädiatrischen Netzwerken, KiTas und der phoniatrisch-pädaudiologischen Universitätsklinik der Autor*innen statt. Die Diagnostik wurde entweder in der o.g. Klinik oder in nahe gelegenen Kindertagesstätten durchgeführt.

Ergebnisse: Im Ergebnis zeigten 145 der 150 Kinder nach ausführlicher Diagnostik eine SES, einige assoziiert mit Komorbiditäten wie geringgradigen Hörstörungen oder kognitiven Entwicklungsverzögerungen, der Großteil ohne solche. 3,3% der Kinder hatten keine SES. Drei Kinder erfüllten die diagnostischen SES-Kriterien nicht, 2 Kinder hatten zu geringen Deutschkontakt.

Diskussion: Der Anteil an Fehlzuordnungen zu Therapien wegen SES erscheint akzeptabel. Dies belegt, dass eine diagnostische Trennung zwischen SES und umgebungsbedingten Sprachauffälligkeiten überwiegend gelingt. Ein gewisser Selektionsbias unter Kindern, die Universitätskliniken besuchen und unter kinderärztlichen Praxen könnte diese Ergebnisse leicht limitieren.

Fazit: In unserem Studiensample findet sich kein Hinweis auf eine Überdiagnose und daraus resultierende Übertherapie oder Fehlzuordnung von Therapieverordnungen für Sprachentwicklungsstörungen.


Text

Hintergrund

Nach Erscheinen der S2k-Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen [1] wurde seitens des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte der Verdacht geäußert, sie würde „Überdiagnose und Übertherapie“ befördern. Weitere Gründe für diese Annahme waren zeitweilig steigende Zahlen an Verordnungen von Sprachtherapie und Regressforderungen von Krankenkassen an kinder- und jugendärztliche Praxen wegen zu häufiger Verordnungen von Sprachtherapie. Schwierigkeiten bei der Sprachdiagnostik können u.a. darin bestehen, bei Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache oder aus einem anregungsarmen Umfeld, sogenannte umgebungsbedingte Sprachauffälligkeiten [1], [2], die keiner Sprachtherapie, sondern einer Sprachförderung bedürfen, von Sprachentwicklungsstörungen (SES) abzugrenzen.

Bei mehrsprachigen Kindern müssen Sprachentwicklungsstörungen diagnostisch von sprachanregungs- bzw. umgebungsbedingt eingeschränkten Sprachkompetenzen abgegrenzt werden [2], da eine Sprachentwicklungsstörung immer alle Sprachen eines Kindes betrifft [3]. Daher untersuchte die hier berichtete Studie die Frage, ob bei Kindern, denen eine Sprachtherapie wegen einer SES verordnet worden war, einer umfassenden Diagnostik zufolge tatsächlich eine solche bestand.

Material und Methoden

Die Eltern von 148 Kindern im Alter von 3;0 bis 7;11 Jahren, die gerade eine Verordnung für Sprachtherapie wegen einer Sprachentwicklungsstörung erhalten hatten oder eine solche Therapie gerade begonnen hatten (maximal 10 Therapieeinheiten absolviert), wurden zu einer umfänglichen Sprach-, audiologischen und Entwicklungsdiagnostik ihres Kindes eingeladen. Die Sprachdiagnostik gliederte sich in die Teilbereiche Sprachverständnis, Wortschatz, Morphologie, Syntax, sprachauditives Gedächtnis sowie Phonologie-Phonetik. Ergänzend wurde der Fragebogen „Skala zur Verständlichkeit im Kontext-Deutsche Version“ (Intelligibility in Context Scale, ICS, [4]) von den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten ausgefüllt. Bei mehrsprachigen Kindern erfolgte die Sprachdiagnostik in der deutschen Sprache und, wo möglich, ebenfalls in der Erstsprache des Kindes. Die Rekrutierung fand in pädiatrischen Netzwerken, KiTas und der phoniatrisch-pädaudiologischen Universitätsklinik der Autor*innen statt. Die Diagnostik wurde entweder in der o.g. Klinik oder in nahe gelegenen Kindertagesstätten durchgeführt.

Ergebnisse

Die Diagnose SES wurde bei 133 von 148 Kindern als uneingeschränkt korrekt eingestuft (89,9%). Bei 2 Kindern (1,35%) wurde als mit der Sprachentwicklungsstörung assoziierte Komorbidität zudem eine Intelligenzminderung (IQ<70), bei 10 Kindern (6,76%) eine Lernbehinderung (IQ=70-84) und bei einem Kind (0,68%) eine spracherwerbsrelevante Hörminderung festgestellt (Abbildung 1 [Abb. 1]). Bei 2 weiteren Kindern (1,35%) wurde ein fehlender bzw. zu geringer Deutschkontakt (weniger als 10 Monate über mehrere Stunden täglich, z.B. in einer Kita) ermittelt (Abbildung 2 [Abb. 2]), so dass in diesen beiden Fällen vorerst eine Sprachentwicklungsstörung nicht bestätigt werden konnte. Insgesamt wurden 74 Kinder (50%) mit einem mehrsprachigen Umfeld untersucht. Davon wurden 65 Kindern Defizite in der Aussprache bescheinigt.

Diskussion

Der Anteil an Fehlzuordnungen zu SES-Therapien (die beiden Kinder mit für eine Beurteilung noch nicht ausreichenden Deutschkenntnissen) erscheint mit 1,35% akzeptabel. Dies belegt, dass eine diagnostische Trennung zwischen SES und umgebungsbedingten Sprachauffälligkeiten überwiegend gelingt. Eine Studienhypothese war, dass Kinder mit mehrsprachigem Hintergrund und nur geringem Deutschkontakt als Kinder mit SES fehlklassifiziert werden könnten. Bei den in dieser Studie untersuchten Kindern betraf dies jedoch nur 2 Kinder. Die Bedeutung non-verbaler kognitiver Entwicklungstests wird an den 12 Kindern (immerhin 8,1% der Gesamtstichprobe) belegt, bei denen eine Lernbehinderung oder Intelligenzminderung festgestellt wurde und denen ohne eine solche Diagnostik möglicherweise wesentliche Förder- oder Therapiemaßnahmen längerfristig vorenthalten worden wären. Einschränkungen im Sprachverständnis zeigten sich bei 83 Kindern. Bei den Kindern mit altersgerechtem Sprachverständnis wurden keine Defizite in der nonverbalen kognitiven Entwicklung gefunden.

Fazit

In unserem Studiensample finden sich keine Hinweise auf eine Überdiagnose und daraus resultierende Übertherapie oder Fehlzuordnung von Therapieverordnungen für Sprachentwicklungsstörungen. Wird ein Sprachverständnisdefizit (T≤35) festgestellt, sollte eine nonverbale kognitive Entwicklungsdiagnostik durchgeführt werden, um eine passgenaue Versorgung der Kinder zu gewährleisten.

Förderung

Studienförderung durch die Albert und Barbara von Metzler-Stiftung und die Leopold-Klinge-Stiftung.


Literatur

1.
de Langen-Müller U, Kauschke C, Kiesel-Himmel C, Neumann K, Noterdaeme M, editors. Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen (SES), unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES). Interdisziplinäre S2k-Leitlinie. AWMF-Register-Nr.: 049/006. 2011.
2.
Neumann K, Kauschke C, Fox-Boyer A, Lüke C, Sallat S, Kiese-Himmel C. Interventionen bei Sprachentwicklungsverzögerungen und -störungen [Interventions for developmental language delay and disorders]. Dtsch Arztebl Int. 2024;121:155-62. DOI: 10.3238/arztebl.m2024.0004 Externer Link
3.
Paradis J, Crago M, Genesee F, Rice M. French-English bilingual children with SLI: how do they compare with their monolingual peers? J Speech Lang Hear Res. 2003 Feb;46(1):113-27. DOI: 10.1044/1092-4388(2003/009) Externer Link
4.
McLeod S, Harrison LJ, McCormack J. The intelligibility in Context Scale: validity and reliability of a subjective rating measure. J Speech Lang Hear Res. 2012 Apr;55(2):648-56. DOI: 10.1044/1092-4388(2011/10-0130) Externer Link