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40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 15.09.2024, Berlin

Die positive und negative Mismatch-Reaktion als elektrophysiologische Marker der auditiven Wahrnehmung im Säuglingsalter

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Gisela Govaart - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Deutschland
  • Martina Dvořáková - Charles University, Prag, Tschechische Republik
  • Kateřina Chládková - Charles University, Prag, Tschechische Republik
  • author Claudia Männel - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Deutschland

40. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Berlin, 12.-15.09.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. DocV3

doi: 10.3205/24dgpp04, urn:nbn:de:0183-24dgpp049

Veröffentlicht: 20. August 2024

© 2024 Govaart et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Der frühkindliche Lauterwerb kann mittels Elektroenzephalographie erforscht werden, die unabhängig von Verhaltensreaktionen und bewusster Aufmerksamkeit funktioniert. Die Mismatch-Reaktion (MMR), als etablierter elektrophysiologischer Marker für die Lautunterscheidung, tritt bei Erwachsenen typischerweise mit einer negativen Polarität auf (Mismatch Negativity), bei Säuglingen hingegen entweder mit einer negativen (nMMR) oder positiven Polarität (pMMR). Diese Polaritätsunterschiede wurden bisher über Altersunterschiede erklärt, wobei sich die pMMR mit zunehmendem Alter zu einer nMMR entwickelt. Da neuere Evidenz jedoch auf zusätzliche individuelle und methodische Einflussfaktoren hindeutet, wurden im vorliegenden Review diese Faktoren systematisch für die Wahrnehmung sprachlicher und nicht-sprachlicher Lautkontraste bei einsprachig aufwachsenden Kindern im Alter von 0–24 Monaten untersucht.

Material und Methoden: Drei Google Scholar-Suchen sowie Vorwärts- und Rückwärtssuchen mit zwei zentralen Artikeln ergaben 170 Artikel, wovon 38 Artikel mit n=209 MMR-Datensätzen die Einschlusskriterien erfüllten. In der deskriptiven Datenauswertung wurden für Faktoren, die in vorherigen Studien einen potenziellen Einfluss auf die MMR-Polarität zeigten (d.h. Schwierigkeit, Kategorie, Natürlichkeit und Muttersprachlichkeit der Stimuli sowie Interstimulus-Intervall, experimentelles Paradigma und Analysefilter/-zeitfenster), die Häufigkeiten an pMMRs versus nMMRs, zumeist in Interaktion mit dem Alter, dargestellt.

Ergebnisse: Die deskriptive Auswertung zeigte einen schwachen Alterseffekt (mehr pMMRs für jüngere und mehr nMMRs für ältere Säuglinge) sowie einen Einfluss des Schlafzustandes (mehr pMMRs für schlafende und mehr nMMRs für wache Säuglinge), einen Einfluss der Stimulusschwierigkeit (mehr pMMRs bei niedrigerer und mehr nMMRs bei höherer perzeptueller Distanz zwischen Stimuli), einen Einfluss der Muttersprachlichkeit (mehr pMMRs für nicht-muttersprachliche und mehr nMMRs für muttersprachliche Stimuli) und einen Einfluss der Länge des Interstimulus-Intervalls (mehr nMMRs für kurze Intervalle).

Diskussion: Der Effekt des Alters auf die Polarität der MMR kann nur im Zusammenspiel mit anderen interindividuellen und methodischen Faktoren interpretiert werden. Die Ergebnisse unseres Reviews erlauben mittels Evaluation dieser Faktoren Rückschlüsse auf die Prozesse, die der pMMR und der nMMR bei der auditiven Wahrnehmung im Säuglingsalter zugrunde liegen.


Text

Hintergrund

Der frühkindliche Erwerb des muttersprachlichen Lautsystems beginnt pränatal und weist wesentliche Meilensteine im ersten Lebensjahr auf [1], [2]. Der Lauterwerb kann mittels Elektroenzephalographie erforscht werden, die unabhängig von Verhaltensreaktionen und bewusster Aufmerksamkeit funktioniert [3]. Die Mismatch-Reaktion (MMR), als etablierter elektrophysiologischer Marker für die Lautunterscheidung, tritt bei Erwachsenen typischerweise mit einer negativen Polarität auf (Mismatch Negativity) [4], bei Säuglingen hingegen entweder mit einer negativen (nMMR) oder positiven Polarität (pMMR) [5]. Diese Polaritätsunterschiede wurden bisher über Altersunterschiede erklärt, wobei sich die pMMR mit zunehmendem Alter zu einer nMMR entwickelt [6], [7]. Da neuere Evidenz jedoch auf zusätzliche individuelle und methodische Einflussfaktoren hindeutet [8], [9], [10], [11], wurden im vorliegenden Review diese Faktoren systematisch für die Wahrnehmung sprachlicher und nicht-sprachlicher Lautkontraste bei einsprachig aufwachsenden Kindern im Alter von 0–24 Monaten untersucht.

Material und Methoden

Drei Google Scholar-Suchen sowie Vorwärts- und Rückwärtssuchen mit zwei zentralen Artikeln [12], [13] ergaben 170 Artikel, wovon 38 Artikel mit n=209 MMR-Datensätzen die Einschlusskriterien erfüllten. In der deskriptiven Datenauswertung wurden für Faktoren, die in vorherigen Studien einen potentiellen Einfluss auf die MMR-Polarität zeigten (d.h. Schwierigkeit, Kategorie, Natürlichkeit und Muttersprachlichkeit der Stimuli sowie Länge des Interstimulus-Intervalls, experimentelles Paradigma und Analysefilter/-zeitfenster), die Häufigkeiten an pMMRs versus nMMRs, zumeist in Interaktion mit dem Alter, dargestellt.

Ergebnisse

Die erste, deskriptive Auswertung der Daten zeigte, dass das Veröffentlichungsjahr der empirischen Studien die vorliegenden MMR-Ergebnisse beeinflusste (Abbildung 1 [Abb. 1]); was sich darauf zurückführen lässt, dass die pMMR erst ab 2005 als valide Diskriminierungsreaktion etabliert wurde. Um die Auswirkungen potenzieller Publikationsverzerrungen zu eliminieren, wurden in nachfolgenden Analysen die Effekte verschiedener Einflussfaktoren auf die MMR-Polarität separat für Publikationen vor 2005 und nach 2005 dargestellt.

Die nach 2005 veröffentlichten Daten zeigten einen schwachen Alterseffekt (mehr pMMRs für jüngere und mehr nMMRs für ältere Säuglinge, Abbildung 2 [Abb. 2]). Zusätzliche Analysen ergaben einen Einfluss des Schlafzustandes (mehr pMMRs für schlafende und mehr nMMRs für wache Säuglinge), einen Einfluss der Stimulusschwierigkeit (mehr pMMRs bei niedrigerer und mehr nMMRs bei höherer perzeptueller Distanz zwischen Stimuli), einen Einfluss der Muttersprachlichkeit (mehr pMMRs für nicht-muttersprachliche und mehr nMMRs für muttersprachliche Stimuli), einen Einfluss der Stimuluskategorie (für nicht-sprachliche Laute nMMRs in einem früheren Alter als für Sprachlaute) und einen Einfluss der Länge des Interstimulus-Intervalls (mehr nMMRs für kurze Intervalle).

Diskussion/Fazit

Der Effekt des Alters auf die Polarität der MMR kann nur im Zusammenspiel mit anderen interindividuellen und methodischen Faktoren interpretiert werden. Die Ergebnisse unseres Reviews erlauben mittels Evaluation dieser Faktoren Rückschlüsse auf die Prozesse, die der pMMR und der nMMR bei der auditiven Wahrnehmung im Säuglingsalter zugrunde liegen.


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