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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Evidenzbasierte Interventionen bei Kindern mit Hörstörungen: Einblick in die interdisziplinäre S3-Leitlinie zur Therapie von Sprachentwicklungsstörungen

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Karen Reichmuth - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Cochlea Implantat Centrum Münsterland, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • author Vanessa Hoffmann - Hochschule für angewandte Wissenschaften, Department Pflege und Management, Hamburg, Deutschland
  • author Katrin Neumann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Cochlea Implantat Centrum Münsterland, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • author Christine Schmitz-Salue - Facharztpraxis für Stimm-, Sprach- und Hörstörungen im Kindesalter und HNO-Heilkunde, Reutlingen, Deutschland
  • author Rainer Schönweiler - Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Lübeck, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocV36

doi: 10.3205/23dgpp65, urn:nbn:de:0183-23dgpp654

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Reichmuth et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Auf Basis einer interdisziplinären, internationalen Literaturrecherche wurde Ende 2022 erstmals eine S3-Leitlinie zur Therapie von Sprachentwicklungsstörungen (SES) veröffentlicht.

Diese enthält auch ein Kapitel mit evidenzbasierten Empfehlungen zu Interventionen bei Kindern mit Hörstörungen, die dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand Rechnung tragen. Fokussiert wird darin auf familienzentrierte Konzepte, die eine enge Einbindung der Eltern in die Hör-, Sprach- und Kommunikations-Intervention, inklusive eines Coachings zur Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion in der Qualität und Quantität der Sprachanregung als Basis für einen erfolgreichen Spracherwerb beinhalten.

Ergebnisse: Die Leitlinie empfiehlt u.a. (a) eine familienzentrierte Frühintervention nach Früherkennung einer Hörstörung, möglichst beginnend im ersten Lebenshalbjahr, (b) nötigenfalls eine familienzentrierte Sprachtherapie ab 2;0-2;5 Jahren zusätzlich zur fachpädagogischen Hörfrühförderung, (c) bei Kindern ab 3 Jahren mit anhaltenden sprachspezifischen Störungen an die Sprachtherapie nicht hörgestörter Kinder adaptierte Methoden, die die Bereiche Morpho-Syntax, Phonologie, Wortschatz und die narrativen Fähigkeiten adressieren, (d) ein Training von Gedächtnisleistungen, (e) das Angebot aktiven Musizierens in der Hör-Sprach-Therapie, sowie (f) regelmäßige entwicklungsbegleitende Evaluationen der Sprachentwicklung. Bei Kindern mit Zusatzbeeinträchtigungen werden Maßnahmen der Unterstützten Kommunikation in der Sprachtherapie empfohlen.

Fazit: Die Leitlinie bietet eine klare, empirisch fundierte Anleitung für wirksame Interventionen, impliziert auch pädagogische Aspekte und soll eine hochwertige Therapieforschung anregen, die die Einbeziehung der Eltern, das Therapiesetting und die Dosierung (Häufigkeit, Dauer, Inhaltsmodule pro Therapiesitzung) berücksichtigt.


Text

Hintergrund

Die Einführung von Neugeborenen Hörscreening Programmen hat die Chancen auf einen erfolgreichen Lautspracherwerb bis hin zu altersgerechten Sprachleistungen für Kinder mit Hörstörungen deutlich verbessert [1]. Die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion, sowie des elterlichen Sprachinputs gelten dabei als Schlüsselfaktoren für den Erfolg. Holzinger et al. [2] zeigen in einer Metaanalyse, dass die Qualität des elterlichen Sprachinputs 32% der Varianz in den sprachlichen Entwicklungsläufen nach Cochlea-Implantat-Versorgung bei Kindern aufklärt. Auch für hörgeräte-versorgte Kinder liegen diesbezüglich Evidenzen vor [3]. Die Wirksamkeit der in Deutschland häufig verwendeten Ansätze zur hörgerichteten Frühintervention in der fachpädagogischen Hörfrühförderung und im Rahmen der sprachtherapeutischen Frühintervention nach CI-Versorgung sind unerforscht. Auch zeigt die neue Generation der Kinder mit Hörstörung sprachspezifische Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung, unabhängig vom Schweregrad der Hörstörung in Morpho-Syntax, Wortschatz, Phonologie und narrativen Fähigkeiten. Für die in Deutschland veröffentlichten sprachtherapeutischen Konzepte zur Behandlung dieser Auffälligkeiten liegen bislang keine (hochwertigen) kontrollierten Wirksamkeitsstudien vor [4].

Auf Basis einer internationalen Literaturrecherche wurde Ende 2022 erstmals eine interdisziplinäre S3-Leitlinie zur Therapie von Sprachentwicklungsstörungen [5] veröffentlicht. Diese enthält auch ein Kapitel mit evidenzbasierten Empfehlungen zu Interventionen bei Kindern mit Hörstörungen [6], die dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand Rechnung tragen.

Methode

In einer systematischen Literaturrecherche wurden die Datenbanken PubMed und Cochrane Liberary für den Zeitraum vom 1.1.1995 bis 15.08.2022 für kind- und elternbasierten Interventionen und Sprachtherapie bei Kindern mit Hörstörungen gesichtet. Eingeschlossen wurden gemäß den Richtlinien für S3-Leitlinien-Niveau ausschließlich systematische Reviews, Metaanalysen, randomisierte kontrollierte Studien und kontrollierte Interventionsstudien. 32 Studien wurden aufgenommen, durch Handsuche um 3 ergänzt und bezüglich ihrer Studienqualität und den Evidenzlevel bewertet. Die Konsentierung der Empfehlungen erfolgte Ende 2022 unter Teilnahme von 23 Fachgesellschaften und einer Patientenvertretung (Deutsche Kinderhilfe e.V.).

Ergebnisse

Eine Großzahl der eingeschlossenen Studien fokussiert auf die Auditiv Verbale Therapie (AVT) [7] und familienzentrierte Interventionen, die eine enge Einbindung der Eltern in die Hör-, Sprach- und Kommunikations-Intervention, inklusive eines Coachings zur Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion in der Qualität und Quantität der Sprachanregung als Basis für einen erfolgreichen Spracherwerb beinhalten. Studien zu sprachspezifischen kindzentrierten Therapiemethoden liegen kaum vor. Studien zu Musik- und Gedächtnistraining belegen positive Effekte.

Diskussion

Für den in Deutschland oft in der Frühintervention angewendeten Natürlich Hörgerichteten Ansatz [8] ist die Studienlage gering, so dass sich bisher kein ausreichend empirischer Evidenznachweis für die Wirksamkeit des Ansatzes ergibt. Publizierte Ergebnisse zum Erfolg können nicht allein auf den Ansatz zurückgeführt werden. Für die AVT [7] liegen umfangreiche, meist retrospektive Studien und fünf systematische Reviews vor. Letztere weisen auf den Mangel an kontrollierten Studien hin, so dass kein ausreichender Evidenznachweis für die Wirksamkeit der AVT vorhanden ist. Beide Ansätze verwenden Methoden (u.a. dialogisches Bilderbuchbetrachten, Singen) mit separaten Evidenznachweisen. Der Einsatz beider Interventionen als Frühintervention erhält in der Leitlinie die abgeschwächte Empfehlung „kann erwogen werden“.

Neue familienzentrierte (Kurz-)Interventionen und Elternprogramme, die vor allem Inhalt und Methodik des kanadischen Hanen Early Language Program [9] für Kinder mit Hörstörungen adaptieren und modifizieren, zeigen kurz- und langfristig Wirksamkeit. Es wurden seit 2013, beginnend mit dem deutschen Münsteraner Elternprogramm zu Kommunikationsförderung von Säuglingen und Kleinkindern mit Hörstörungen [10] zunehmend mehr dieser adaptierten Ansätze publiziert, deren Wirksamkeit nachgewiesen wurde [6]. Sie decken die Altersspanne von 3 Monaten bis 5 Jahren ab und sollen gemäß Leitlinie eingesetzt werden. Auch die Kombination von Methoden aus der AVT und dem Natürlich Hörgerichteten Ansatz mit diesen Interventionen ist wirksam [11].

Die Leitlinie [6] empfiehlt zusammenfassend u.a. (a) eine familienzentrierte Frühintervention mit dem Fokus auf Elterncoaching nach Früherkennung einer Hörstörung, möglichst beginnend im ersten Lebenshalbjahr auch vor und nach CI-Versorgung, (b) nötigenfalls eine familienzentrierte Sprachtherapie ab 2;0-2;5 Jahren zusätzlich zur fachpädagogischen Hörfrühförderung, ebenfalls mit Schwerpunkt Elterncoaching, (c) bei Kindern ab 3 Jahren mit anhaltenden sprachspezifischen Störungen an die Sprachtherapie nicht hörgestörter Kinder adaptierte Methoden, die die Bereiche Morpho-Syntax, Phonologie, Wortschatz und die narrativen Fähigkeiten adressieren, (d) ein Training von Gedächtnisleistungen, (e) das Angebot aktiven Musizierens in der Hör-Sprach-Therapie, sowie (f) regelmäßige entwicklungsbegleitende Evaluationen der Sprachentwicklung. Bei Kindern mit Zusatzbeeinträchtigungen werden Maßnahmen der Unterstützten Kommunikation in der Sprachtherapie empfohlen.

Fazit

Die Leitlinie bietet eine klare, empirisch fundierte Anleitung für wirksame Interventionen, impliziert auch pädagogische Aspekte und soll eine hochwertige Therapieforschung anregen, die die Einbeziehung der Eltern, das Therapiesetting und die Dosierung (Häufigkeit, Dauer, Inhaltsmodule pro Therapiesitzung) berücksichtigt.


Literatur

1.
Yoshinaga-Itano C, Manchaiah V, Hunnicutt C. Outcomes of universal newborn screening programs: systematic review. J Clin Med. 2021;10(13):2784. DOI: 10.3390/jcm10132784 Externer Link
2.
Holzinger D, Dall M, Sanduvete-Chaves S, Saldaña D, Chacón-Moscoso S, Fellinger J. The impact of family environment on language development of children with cochlear implants: a systematic review and meta-analysis. Ear Hear. 2020;41(5):1077-91. DOI: 10.1097/AUD.0000000000000852 Externer Link
3.
Ambrose SE, Walker EA, Unflat-Berry LM, Oleson JJ, Moeller MP. Quantity and quality of caregivers’ linguistic input to 18-month and 3-year-old children who are hard of hearing. Ear Hear. 2015;36 Suppl 1(01):48-59. DOI: 10.1097/AUD.0000000000000209 Externer Link
4.
Wachtlin B, Bohnert K, editors. Kinder mit Hörschädigungen in der Logopädie. Forum Logopädie. Stuttgart: Thieme; 2018.
5.
Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), Hrsg. Therapie von Sprachentwicklungsstörungen, Interdisziplinäre S3-Leitlinie, Version 1.1, AWMF-Registernr. 049-015. 2022. Verfügbar unter: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/049-015 Externer Link
6.
Hoffmann V, Reichmuth K, Neumann K, Schmidt-Salue C, Schönweiler R. Therapie von Sprachentwicklungsstörungen bei Hörstörungen. In: Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), Hrsg. Therapie von Sprachentwicklungsstörungen, Interdisziplinäre S3-Leilinie, Version 1.1, AWMF-Registernr. 049-015. 2022. Verfügbar unter: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/049-015 Externer Link
7.
Estabrooks W, Maclver-Lux K, Rhoades EA. Auditory-verbal therapy: for young children with hearing loss and their families, and the practitioners who guide them. San Diego, CA: Plural Publishing; 2016.
8.
Clark M. A practical guide to quality interaction with children who have a hearing loss. San Diego, CA: Plural Publishing; 2006.
9.
Girolametto L, Weitzman E. It takes two to talk—The Hanen program for parents: Early language intervention through caregiver training. In: MacCauley RJ, Fey ME, editors. Treatment of language disorders in children. Baltimore, MD: Brookes; 2006. p. 77-104.
10.
Glanemann R, Reichmuth K, Matulat P, Zehnhoff-Dinnesen AA. Muenster parental programm empowers parents in communicating with their infant with hearing loss. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2013;77(12):2.
11.
Nicastri M, Giallini I, Ruoppolo G, Prosperini L, de Vincentiis M, Lauriello M, Rea M, Traisci G, Mancini P. Parent training and communication empowerment of children with cochlear implant. J Early Intervention. 2020;43(2):117-34. DOI: 10.1177/1053815120922908. Externer Link