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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Schallschutzotoplastiken und Musikerschallschutz zur Kompensation von Hyperakusis bei Kindern und Jugendlichen

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  • corresponding author presenting/speaker Berrit Liselotte Husstedt - Klinik für Kinder- und Jugendmedizin UKSH, Campus Lübeck, Lübeck, Deutschland
  • author Claudia Brömel - Akademie für Hörakustik Lübeck der Bundesinnung der Hörakustiker, Lübeck, Deutschland
  • author Rainer Schönweiler - Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie, Lübeck, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocP32

doi: 10.3205/23dgpp64, urn:nbn:de:0183-23dgpp649

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Husstedt et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Hyperakusis wird bei Kindern u.a. nach langen Episoden von Schalleitungsschwerhörigkeiten, bei Ausfall der Stapediusreflexe, im Rahmen von AVWS oder Autismus-Spektrum-Störungen festgestellt. Geräusche werden bereits bei geringen Schalldruckpegeln als zu laut empfunden. Für Erwachsene werden psychosomatische Komplextherapien angeboten, nicht aber für Kinder und Jugendliche. Diese Therapien können zudem die konsekutiven Lern- und Verhaltensstörungen nicht zuverlässig und zeitnah beseitigen. Wir haben einen bisher nicht publizierten Therapieansatz mittels maßangefertigten Schallschutzotoplastiken bzw. konfektioniertem Musikerschallschutz entwickelt, um den Schall in allen Hörfrequenzen gleichmäßig zu „dämpfen“, ohne das Sprachverstehen unter einen für die Kommunikation kritischen Wert zu senken.

Material und Methoden: Ausgewertet wurden die Daten von 46 behandelten Kindern und Jugendlichen mit einer diagnostizierter Hyperakusis. Die Dämpfungswerte der eingebauten akustischen Filter betrugen 15-20 dB breitbandig im gesamten Hörfrequenzspektrum. Die Ergebnisse der Hörfeldskalierung, des Sprachverstehen im Störschall (Freiburger Einsilber- bzw. Göttinger Kindersprachtest), des 50-%-Verstehens im Oldenburger Kindersatztest, sowie des Reinton-Audiogramms wurden prä- und posttherapeutisch verglichen.

Ergebnisse: Schallschutzotoplastiken und Musikerschallschutz zeigten bei höheren Schalldruckpegeln eine signifikante Reduktion der Lautheitsempfindung. Das Tragen hatte keinen Einfluss auf die Lautheitsempfindung bei geringen Schalldruckpegeln. Das Sprachverstehen im Störschall fiel nicht unter einen kritischen Wert von 80 %. Zudem war keine wesentliche Verschlechterung der Hörschwelle zu verzeichnen. Die Untersuchung der Untergruppen (AVWS, Asperger-Autismus und Geschlecht) zeigte keine signifikanten Unterschiede der Ergebnisse.

Diskussion: Schallschutzotoplastiken und Musikerschallschutz können die Lautheitsempfindung bei höheren Schalldruckpegeln senken, ohne das Sprachverstehen im Störschall unter einen kritischen Wert von 80% zu verschlechtern, d.h. ohne zu starke Nebenwirkungen hervorzurufen. Die Untersuchung der Untergruppen zeigte keine signifikanten Unterschiede, welche eine Einschränkung in der Indikationsstellung für eine Ausstattung bedeuten würden.

Fazit: Schallschutzotoplastiken oder Musikerschallschutz können bei Kindern und Jugendlichen mit Hyperakusis zu einem neuen Hilfsmittel werden, das zur Kompensation und sofortigen Hilfe nützlich ist, bevor eine Heilbehandlung z.B. in Form einer Habituationstherapie anwendbar ist.


Text

Hintergrund

Patienten mit Hyperakusis empfinden Geräusche bereits bei geringeren und „normalen“ Schalldruckpegeln als unerträglich laut und versuchen daher, diese zu meiden. Ein solches Verhalten kann im Extremfall zur vollständigen sozialen Isolation führen [1], [2], S. 25-30. Auch Kinder und Jugendliche können unter Hyperakusis leiden, speziell bei Komorbiditäten wie einer Auditiven Wahrnehmungsstörung (AVWS) oder einem Asperger-Autismus [3], [4]. Für Kinder und Jugendliche gibt es derzeit keine Angebote für Psychotherapien oder stationäre Komplextherapien [5]. Zudem stellt sich die Wirkung dieser Behandlungen erst nach längerer Therapiezeit ein. Gerade Kinder und Jugendliche sind jedoch als Schüler auf schnelle Hilfe angewiesen [6]. In dieser Arbeit wurden erste Ergebnisse eines neuen Therapieansatzes mittels konfektioniertem Musikerschallschutz oder maßangefertigter Schallschutzotoplastiken untersucht. Diese „dämpfen“ hohe Lautstärken, ohne Beeinträchtigung des Sprachverstehens, sofern auf eine praxistaugliche Balance von Wirkung (Dämpfung) und Nebenwirkung (Absenkung des Sprachverstehens) geachtet wird.

Material und Methoden

Es erfolgte die retrospektive Datenanalyse von 46 ausgestatteten Kindern und Jugendlichen aus dem Patientenkollektiv der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Phoniatrie und Pädaudiologie des UKSH, Campus Lübeck. Verglichen wurden die Ergebnisse vor Ausstattung (t0ohne) mit den Ergebnissen der ersten Vorstellung nach Ausstattung sowohl mit (t1mit) wie auch ohne Schallschutz (t1ohne). Zum Ausschluss einer Störung der Hörfunktion durch den Schallschutz, erfolgte ein Vergleich der Reinton-Audiogramme vor und nach Versorgung. Die Hyperakusis wurde mit der Würzburger Hörfeldskalierung in den Frequenzen 500 Hz, 1000 Hz, 2000 Hz sowie 4000 Hz mit Prüflautstärken von 20-90 dB (A) diagnostiziert. Die Lautheitswerte wurden für jede Frequenz und Patienten bzw. Patientin gemittelt und in den drei betrachteten Konditionen miteinander verglichen. Zuvor erfolgte eine Einteilung der Werte in zwei Bereiche: 20 bis 55 dB und 55 bis 90 dB. Ergänzend erfolgte eine Untersuchung von Untergruppen: Diagnose einer AVWS oder einer Autismus-Spektrum-Störung sowie Geschlecht. Zudem wurde durch den Freiburger Einsilbertest bzw. Göttinger Kindersprachtest untersucht, wie stark die das Sprachverstehen im Störschall vermindert wird (Sprachpegel 65 dB SPL, Störgeräuschpegel 60 dB SPL). Die Dämpfungswerte wurden so gewählt, dass das Verstehen mit Schallschutz mindestens 80 % betrug. Darüber hinaus wurde die Sprachverständlichkeitsschwelle mit dem Oldenburger Kindersatztest bei einem Störgeräuschpegel von 65 dB SPL und einem variablen Sprachsignalpegel bestimmt. Durchgeführt wurde eine adaptive, binaurale Freifeldmessung mit einem sprachsimulierenden Rauschen als Störgeräusch.

Ergebnisse

Im Bereich des geringeren Schalldruckpegel von 20 - 55 dB zeigten sich beim Vergleich der Lautheitswahrnehmung vor und nach Versorgung – bis auf für die Prüffrequenz 4000 Hz zwischen (t0ohne) und (t1mit) – keine signifikanten Unterschiede. Eine signifikante Reduktion des Lautheitsempfindens zeigte sich im Pegelbereich von 55 - 90 dB in allen Prüffrequenzen, sowie zwischen (t0ohne) und (t1mit) und (t1ohne) und (t1mit). Lediglich bei 1000 Hz war kein signifikanter Unterschied im Vergleich von (t0ohne) und (t1mit) zu verzeichnen. Durch geeignete Auswahl der Filterstärke wurde das Sprachverstehen im Störschall nicht unter den kritischen Wert von 80 % gesenkt. Der Median betrug zum Zeitpunkt (t0ohne) 100%. Nach Versorgung zeigte sich ohne Schallschutz ein Median von 95%, mit lag der Median bei 90%. Ebenso war keine Verschlechterung der Hörschwelle zu verzeichnen. In der Untersuchung der Untergruppen zeigten sich keine signifikanten Unterschiede.

Abbildung 1 [Abb. 1]

Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass Schallschutzotoplastiken die Lautheitsempfindung bei höherem Schalldruckpegel supprimieren können, ohne das Sprachverstehen oder das Hören bei niedrigem Schalldruckpegel negativ zu beeinflussen. Zudem konnte in der Untersuchung der Komorbiditäten und des Geschlechts kein signifikanter Unterschied festgestellt werden, welcher eine Einschränkung in der Indikationsstellung für eine Ausstattung darstellen würde. Bei zukünftigen Untersuchungen sollte aufgrund der Subjektivität der Hyperakusis auch die subjektive Einschätzung der Auswirkungen für die Betroffenen und deren Bezugspersonen mit einbezogen und in der Bewertung des Therapieerfolgs berücksichtigt werden.

Fazit

Maßangefertigte Schallschutzotoplastiken oder konfektionierter Musikerschallschutz könnten bei Kindern und Jugendlichen zu einem neuen Hilfsmittel zur Suppression von Hyperakusis werden. Im Gegensatz zu Heilbehandlungen, wie sie für Erwachsene z.B. als psychosomatische Komplextherapie bekannt sind, sind Schallschutzotoplastiken und Musikerschallschutz sofort wirksam.


Literatur

1.
Hesse G, Schaaf H. Tinnitus, Hyperakusis und Phonophobie: Symptome gestörter Hörwahrnehmung. Sprache Stimme Gehör. 2012;36(4):160-163.
2.
Schaaf H, Nelting M. Wenn Geräusche zur Qual werden. Geräuschempfindlichkeit: Richtig erkennen – erfolgreich behandeln – selbst aktiv werden. Stuttgart: Trias; 2003.
3.
Khalfa S, Bruneau N, Rogé B, Georgieff N, Veuillet E, Adrien JL, Collet L. Increased perception of loudness in autism. Hearing research. 2004;198(1-2):87-92.
4.
Goebel G. Wenn Hören zur Qual wird. HNO Nachrichten. 2011;41(2):20-23.
5.
Nelting M. Hyperakusis - Frühzeitig erkennen, aktiv behandeln. Stuttgart: Thieme; 2003.
6.
Ralli M, Greco A, Altissimi G, Tagliaferri N, Carchiolo L, Turchetta R, de Vincentiis M. Hyperacusis in children: a preliminary study on the effects of hypersensitivity to sound on speech and language. The International Tinnitus Journal. 2018;22(1):10-18.