gms | German Medical Science

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Stimmfunktion und logopädische Frühintervention nach Strangulation mit komplettem Trachea-Abriss

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Karl Melzer - Abteilung für Kommunikationsstörungen, Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Tilman Huppertz - Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Berit Hackenberg - Abteilung für Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Christina Freude - Abteilung für Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Michaela Fischer - Abteilung für Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Anne K. Läßig - Abteilung für Kommunikationsstörungen, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocP29

doi: 10.3205/23dgpp61, urn:nbn:de:0183-23dgpp614

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Melzer et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Im Jahr 2021 starben in Deutschland insgesamt 9.215 Personen durch Suizid. Die am häufigsten gewählte Methode war die Selbsttötung durch „Erhängen, Strangulieren oder Ersticken“. Fast die Hälfte aller Männer, die Suizid beging, starb auf diese Art und Weise (48,4 %). In der Literatur sind Fälle beschrieben, welche selbst nach komplettem Trachea-Abriss einen sehr guten Outcome gezeigt haben, jedoch fehlen meist Informationen zur Stimmfunktion und logopädischen Therapie.

Material und Methoden: Case Report zu Stimmparametern und Rehabilitationsansätzen nach schwerem Larynxtrauma in suizidaler Absicht mit beidseitiger Recurrensparese nach komplettem Trachea-Abriss der Pars cervicalis.

Ergebnisse: Ein 24-jähriger Mann wurde uns nach Suizidversuch durch Strangulation vorgestellt. Die initiale Vorstellung erfolgte notfallmäßig über den Schockraum. Beim Eintreffen der Rettungskräfte war eine suffiziente Beatmung mittels Intubation möglich. In der durchgeführten CT zeigte sich neben einer Weichteilschwellung des Larynx kein Anhalt für eine versorgungspflichtige Larynxfraktur. Am 3. Tag fiel in einer Kontroll-CT ein sehr prall gefüllter Cuff des einliegenden Tubus auf, der den Durchmesser des Trachealumens überstieg, sodass ein kompletter Trachea-Abriss der Pars cervicalis nicht sicher ausgeschlossen werden konnte. Mittels flexibler Tracheo-Bronchoskopie bestätigte sich dieser und es erfolgte direkt eine Rekonstruktion der Trachea mit End-zu-End-Anastomose. Nach frustranen Extubationsversuchen bei massiver Dyspnoe und inspiratorischem Stridor erfolgte am 18. Tag bei beidseitiger Recurrensparese eine dorsale Glottiserweiterung rechts mittels CO2-Laser. Im Verlauf konnte der Patient erfolgreich extubiert werden. In der Stroboskopie waren die Stimmlippen bds. bei Phonationsversuch minimal beweglich mit leichter Adduktion. Phonatorische Schwingungen der rechten Stimmlippe waren erkennbar. Der Glottisschluss war inkomplett. R2-3 B1-2 H2-3, MTH: 3 Sek., VHI-12: 19 Punkte. Wir führten ab dem 30. Tag eine logopädische Frühintervention durch. Der Patient wurde zur weiteren Behandlung der Depression den Kollegen der Psychiatrie übergeben und ambulant phoniatrisch weiter kontrolliert.

Fazit: Eine phoniatrische Mitbehandlung mit ggf. phonochirurgischer Intervention und logopädischer Frühintervention ist im Rahmen der Rehabilitation nach Suiziden mit Strangulation, insbesondere bei komplettem Trachea-Abriss, anzustreben und sollte in die Leitlinien der Behandlung von Patienten nach Strangulationen einfließen.


Text

Hintergrund

Im Jahr 2021 starben in Deutschland insgesamt 9.215 Personen durch Suizid. Die am häufigsten gewählte Methode war die Selbsttötung durch „Erhängen, Strangulieren oder Ersticken“: Fast die Hälfte aller Männer, die Suizid beging, starb auf diese Art und Weise (48,4 %) [1]. In der Literatur sind Fälle beschrieben, welche selbst nach komplettem Trachea-Abriss einen sehr guten Outcome gezeigt haben [2], jedoch fehlen meist Informationen zur Stimmfunktion und logopädischen Therapie.

Material und Methoden

Case Report zu Stimmparametern und Rehabilitations-ansätzen nach schwerem Larynxtrauma in suizidaler Absicht mit beidseitiger Recurrensparese nach komplettem Trachea-Abriss der Pars cervicalis.

Ergebnisse

Ein 24-jähriger Mann wurde uns nach Suizidversuch durch Strangulation vorgestellt. Dabei sei er mit einer um den Hals gebundenen Drahtschlinge, welche er vorher vom Fahrersitz seines Autos nach hinten durch die geöffnete Kofferraumklappe an einen hinter dem Fahrzeug stehenden Baum fixiert hatte, losgefahren. Zusätzlich habe eine Medikamentenintoxikation unter anderem mit Lithium bestanden. Beim Eintreffen der Rettungskräfte war eine suffiziente Beatmung mittels Intubation möglich. Die initiale Behandlung erfolgte notfallmäßig im Schockraum. In der durchgeführten Computertomographie (CT) des Halses zeigte sich neben einer Weichteilschwellung des Larynx kein Anhalt für eine versorgungspflichtige Larynxfraktur. Am 3. Tag fiel im Kontroll-CT (Abbildung 1 [Abb. 1]) ein sehr prall gefüllter Cuff des einliegenden Tubus auf, der den Durchmesser des Trachealumens überstieg, sodass ein kompletter Trachea-Abriss der Pars cervicalis nicht sicher ausgeschlossen werden konnte. Mittels flexibler paratubaler Tracheo-Bronchoskopie bestätigte sich dieser und es erfolgte eine Rekonstruktion der Trachea mit End-zu-End-Anastomose. Nach frustranen Extubationsversuchen bei massiver Dyspnoe und inspiratorischem Stridor erfolgte am 18. Tag bei beidseitiger Recurrensparese eine dorsale Glottiserweiterung rechts mittels CO2-Laser. Im Verlauf konnte der Patient erfolgreich extubiert werden. In der Videostroboskopie waren die Stimmlippen beidseits bei Phonationsversuch minimal beweglich mit leichter Adduktion. Phonatorische Schwingungen der rechten Stimmlippe waren erkennbar. Der Glottisschluss war inkomplett.

Wir führten ab dem 30. Tag eine logopädische Frühintervention durch (Abbildung 2 [Abb. 2]). Dabei zeigten sich folgende Stimmparameter: R2-3 B1-2 H2-3, MTH: 3 Sek., verkürzte Atemmittellage, inkonstant inspiratorischer Stridor, VHI-12: 19 Punkte, Stimmfeldmessung: Kopfregister nicht evozierbar, mittlere Sprechstimmlage erschien abgesenkt, reduzierte Phrasenlänge, Stimmversagen gegen Ende der Phrasen, reduzierte Prosodie, angemessene Artikulation und Sprechtempo, O2-Sättigung während der Stimmtherapie 97-98%.

Mit dem Patienten wurden Übungen zur Atemwahrnehmung und -vertiefung, zur Flexibilisierung der Bauchdecke im Liegen und Sitzen, zur reflektorischen Atemergänzung nach Ausatemimpuls auf „f“ durch Lösen der Bauchdecke, zum alternierenden Öffnen und Schließen der Stimmritze im Staccato auf „u“ sowie synergetische Bewegungen mit dem Zeigefinger sowie zur Variation des Druckes über die Handflächen, zur Flexibilisierung der Stimme über Glissandi eingeübt und eine Anleitung zum eigenständigen Durchführen gegeben.

Der Patient wurde zur weiteren Behandlung der Depression den Kollegen der Psychiatrie übergeben und ambulant phoniatrisch weiter kontrolliert.

Diskussion

Der komplette Trachea-Abriss mit beidseitiger Recurrensparese ist mit einer sehr hohen Sterblichkeitsrate assoziiert. Allerdings sind in der Literatur einige Fälle beschrieben, die nach schwerem Larynxtrauma ein gutes Outcome hatten [3], [4]. Allerdings fehlen meist Informationen zur Stimmfunktion, bzw. werden subjektiv vom Patienten, einem Arzt oder von Familienmitglieder in „gut“, „mittel“ und „schlecht“ eingeteilt [5]. Unser Case Report soll zeigen, dass die Rekonstruktion der Atemwege in akuten Fällen eine vitale Operationsindikation darstellt. Eine frühzeitige Mitbehandlung durch einen Phoniater und Logopäden ist für die Lebens- und Stimmqualität der Patienten bedeutsam. Weiterhin sollte eine psychiatrische Mitbetreuung erfolgen, um einen möglichen erneuten Suizidversuch zu verhindern.

Fazit

Eine phoniatrische Mitbehandlung mit gegebenenfalls phonochirurgischer Intervention und logopädischer Frühintervention ist im Rahmen der Rehabilitation nach Suiziden mit Strangulation, insbesondere bei komplettem Trachea-Abriss, anzustreben und sollte in die Leitlinien der Behandlung von Patienten nach Strangulationen einfließen.


Literatur

1.
Statistisches Bundesamt (Destatis). Suizide in Deutschland. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/suizide.html Externer Link
2.
Kunii M, Ishida K, Ojima M, Sogabe T, Shimono K, Tanaka T, Ohnishi M. Bilateral vocal cord paralysis in a hanging survivor: a case report. Acute Med Surg. 2020 Jun 8;7(1):e519. DOI: 10.1002/ams2.519 Externer Link
3.
Choi JW, Koo BS, Rha KS, Yoon YH. Complete laryngotracheal separation following attempted hanging. Clin Exp Otorhinolaryngol. 2012 Sep;5(3):177-80. DOI: 10.3342/ceo.2012.5.3.177 Externer Link
4.
Kisser U, Pabst F, Bartel S, et al. Fallbericht zum traumatischen Totalabriss der Trachea vom Kehlkopf mit positivem Ausgang. HNO. 2022;70:765-68. DOI: 10.1007/s00106-022-01159-9 Externer Link
5.
Jalisi S, Zoccoli M. Management of laryngeal fractures--a 10-year experience. J Voice. 2011 Jul;25(4):473-9. DOI: 10.1016/j.jvoice.2009.12.008 Externer Link