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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Erste klinische Erfahrungen zum Einsatz von abbaubaren Implantatmaterialien zur Defektdeckung nach tumorchirurgischer Resektion im oberen Aerodigestivtrakt

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Dorothee Rickert - Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Marienhospital, Stuttgart, Deutschland
  • author Matthias Rapp - Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sporttraumatologie – Zentrum für Schwerbrandverletzte, Marienhospital, Stuttgart, Deutschland
  • author Helmut Steinhart - Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Marienhospital, Stuttgart, Deutschland
  • author Ralph Kehl - Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Marienhospital, Stuttgart, Deutschland
  • author Ulrich Hay - Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Marienhospital, Stuttgart, Deutschland
  • author Helmut Hierlemann - PolyMedics Innovations GmbH, Denkendorf, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocP22

doi: 10.3205/23dgpp48, urn:nbn:de:0183-23dgpp481

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Rickert et al.
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Gliederung

Zusammenfassung

Hintergrund: Der Defektverschluss nach tumorchirurgischer Resektion im oberen Aerodigestivtrakt mit resorbierbaren, polymeren Implantatmaterialien anstelle von Hautmuskellappen würde eine neuartige therapeutische Option in der onkologischen Kopf-, Halschirurgie darstellen. Von phoniatrischer Seite wäre eine verbesserte Schluck- und Sprechfunktion im Vergleich zu den bisherigen funktionellen Ergebnissen bei Anwendung von Hautmuskellappen ein wesentliches Ziel. In Zeiten der Ressourcenknappheit in der stationären Patientenversorgung sind bei einer erfolgreichen Defektdeckung mit polymeren Implantatmaterialien die kürzeren OP-Zeiten und die Senkung der operativen Morbidität mit kürzen Liegezeiten wesentliche Parameter.

Material und Methoden: Bei bisher 12 tumorchirurgischen Resektionen von T1 und T2 Zungenrandkarzinomen erfolgte eine Abdeckung der Defektzone mit Suprathel® in einer speziellen Modifikation als „Suprathel 250“ als Off-Label-Use. Suprathel® wie auch das „Suprathel 250“ sind innovative biologisch abbaubare mikroporöse Membranen, die für den alloplastischen Hautersatz zur Behandlung von epidermalen und dermalen Wunden zugelassen sind. Suprathel® sowie das „Suprathel 250“ haben vergleichbare Eigenschaften bezüglich Elastizität, Wasserdampfdurchlässigkeit und Bakterienundurchlässigkeit.

Als funktionelle Parameter wurden die Artikulation und die orale Phase des Schluckaktes erfasst.

Ergebnisse: „Suprathel 250“ besitzt nach den bisherigen klinischen Erfahrungen im enoralen Milieu eine ausreichende chemische, enzymatische und bakterielle Stabilität. Bei allen Patienten zeigte sich eine rasche, problemlose Wundheilung mit sehr guter Artikulation und Schluckfähigkeit. Alle Patienten waren vollständig oralisiert. Postoperative Nachblutungen traten bei keinem Patienten auf.

Diskussion: Die hydrolytische Degradation des Materials zu Laktat scheint, wie auch bei der Anwendung von Suprathel® in der Verbrennungschirurgie, über die pH-Wert-Verschiebung das zelluläre Wundheilungsmilieu zu fördern und den Gewebeaufbau zu stimulieren.

Fazit: In einem nächsten Schritt soll die Anwendung von „Suprathel 250“ (einem CE/FDA zugelassenen Medizinprodukt im gleichen Anwendungsspektrum wie Suprathel®) in größeren Studien oral und pharyngeal validiert werden und auch im Bereich von pharyngokutanen Fisteln angewendet werden.

Die Phoniatrie sollte hier durch ihre Expertise in der Sprech- und Schluckfunktion in die Etablierung neuer onkologischer Therapieoptionen von Beginn an eingebunden sein.


Text

Einleitung

Die Regenerative Medizin wird als vielversprechender Bereich der modernen Biomedizin angesehen. Die Anwendung von polymeren, abbaubaren Implantatmaterialien steht in der onkologischen Kopf-Hals-Chirurgie noch ganz am Anfang. Die Anwendung von abbaubaren Materialien im Bereich der Schleimhaut des oberen Aerodigestivtraktes stellt besondere Anforderungen an die chemische, enzymatische, bakteriologische und mechanische Stabilität der Implantatmaterialien. Eine vorzeitige Degradation des Materials wäre mit dem Risiko von Speichelfisteln bis hin zur Carotisarrosionsblutung assoziiert.

Der Defektverschluss nach tumorchirurgischer Resektion im oberen Aerodigestivtrakt mit resorbierbaren, polymeren Implantatmaterialien anstelle von Hautmuskellappen würde eine neuartige therapeutische Option in der onkologischen Kopf-, Halschirurgie darstellen. Von phoniatrischer Seite wäre eine verbesserte Schluck- und Sprechfunktion im Vergleich zu den bisherigen funktionellen Ergebnissen bei Anwendung von Hautmuskellappen ein wesentliches Ziel. In Zeiten der Ressourcenknappheit in der stationären Patientenversorgung sind bei einer erfolgreichen Defektdeckung mit polymeren Implantatmaterialien die reduzierten OP-Zeiten und die Senkung der operativen Morbidität mit kürzeren Liegezeiten wesentliche Parameter.

Bisher ist kein polymeres, abbaubares Implantatmaterial für die Schleimhautrekonstruktion im oberen Aerodigestivtrakt verfügbar. Beim Einsatz des biodegradierbaren Materials Suprathel® in der Verbrennungschirurgie zur Behandlung von epidermalen und dermalen Wunden zeigt sich neben einer reduzierten Entzündungsreaktion und reduziertem oxidativem Stress, ein Wundheilungseffekt durch eine verbesserte Vaskularisierung, eine gesteigerte Fibroblastenmigration sowie eine gesteigerte Kollagensynthese. Darüber hinaus besteht ein Barriereeffekt mit einem reduziertem Flüssigkeitsverlust und einem verhinderten Eindringen von Bakterien.

Aufgrund der aufgeführten Materialeigenschaften des Suprathels® zur Behandlung von epidermalen und dermalen Wunden wurde Suprathel® 250 erstmalig im Schleimhautbereich des oberen Aerodigestivtraktes eingesetzt.

Material und Methoden

Bei Suprathel® handelt es sich um eine biologisch abbaubare Membran, die für den alloplastischen Hautersatz zur Behandlung von epidermalen und dermalen Wunden in der EU seit 2004 zugelassen ist. Das Suprathel® 250 ist im chemischen Aufbau und Struktur analog dem Suprathel®. Auch das klinische Einsatzgebiet ist analog dem Suprathel®. Der einzige Unterschied ist die Querschnittsdicke der Membran. Das Suprathel® hat eine Dicke von 80-120µm versus einer Querschnittsdicke von 170-230µm beim Suprathel® 250.

Bei Suprathel® handelt es sich um eine interkonnektierende Membranstruktur nach dem Strukturvorbild der menschlichen Haut auf der Basis von Polymilchsäure mit hoher Elastizität und Flexibilität. Das Material wird vollständig hydrolytisch zu Laktat bzw. Milchsäure abgebaut und inert im Rahmen des Zitronensäurezyklus metabolisch abgebaut.

Bei bisher 12 tumorchirurgischen Resektionen von T1 und T2 Zungenrandkarzinomen wurde eine Abdeckung der Defektzone mit Suprathel® in einer speziellen Modifikation als „Suprathel 250“ als Off-Label-Use durchgeführt. Das Material wurde mit Vicryl 3.0 im Bereich der Resektionsränder fixiert. Postoperativ erfolgte die stationäre Überwachung mit täglicher Wundkontrolle und -dokumentation. Alle Patienten waren mit weichen Konsistenzen oralisiert. Die Schmerzmedikation erfolgte nach Bedarf oral mit Paracetamol 500 und/oder Ibuprofen 400. Kein Patient erhielt postoperativ eine Antibiose.

Ergebnisse und Diskussion

Bei allen Patienten zeigte sich eine problemlose Wundheilung. Infektionen traten postoperativ nicht auf. Ebenso kam es bei keinem Patienten im postoperativen Verlauf zu einer Nachblutung. Alle Patienten waren mit weichen Konsistenzen vollständig oralisiert. Bei allen Patienten zeigte sich eine relativ gut verständliche Artikulation. Der Analgesiebedarf war mit einer oralen Paracetamol- und Ibuprofen-Medikation relativ gering.

Suprathel® 250 besitzt nach den bisherigen klinischen Erfahrungen eine ausreichende enzymatische Aktivität im Kontakt mit Speichel sowie eine ausreichend chemische Stabilität im oralen Milieu. Die mechanische Stabilität im Zungenrandbereich war ausreichend. Ebenso zeigte sich bei den bisherigen Ergebnissen eine ausreichende bakteriologische Stabilität im Mundhöhlenbereich.

Die hydrolytische Degradation des Materials zu Laktat scheint, wie auch bei der Anwendung von Suprathel® in der Verbrennungschirurgie, über die pH-Wert-Verschiebung das zelluläre Wundheilungsmilieu zu fördern und den Gewebeaufbau zu stimulieren. Der bei Anwendung von Suprathel® bei epidermalen und dermalen Wunden beschriebene Barriereeffekt sowie der systemische und Wundheilungsdefekt scheint auch im Schleimhautniveau eine Relevanz zu haben.

Ausblick

In einem nächsten Schritt soll die Anwendung von „Suprathel 250“ (einem CE/FDA zugelassenen Medizinprodukt im gleichen Anwendungsspektrum wie Suprathel®) in größeren Studien oral und pharyngeal validiert werden und auch im Bereich von pharyngokutanen Fisteln angewendet werden.

Eine erfolgsversprechende Entwicklung neuartiger regenerativer Therapieansätze in der onkologischen Kopf-, Halschirurgie wird nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in sehr frühen Forschungs- und Entwicklungsphasen möglich sein. Die Phoniatrie sollte aufgrund ihrer Expertise in der funktionellen Betreuung und Rehabilitation der onkologischen Patienten der Kopf-Hals-Tumorzentren von Beginn an in die Entwicklung neuer Therapieoptionen eingebunden sein.