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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Einfluss des Wohnorts auf die Teilnahme am Neugeborenen-Hörscreening (NHS) in Berlin

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Jonas Lüske - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • Anke Hirschfelder - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • Friederike Wohlfarth - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • Dirk Mürbe - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocP19

doi: 10.3205/23dgpp38, urn:nbn:de:0183-23dgpp386

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Lüske et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Wohnortsspezifische Faktoren und der sozioökonomische Status haben einen Einfluss auf den Diagnosezeitpunkt und den Therapieerfolg vieler Erkrankungen, z.B. durch die unterschiedliche Teilnahme an Screening-Programmen. Ziel dieser Untersuchung ist es, mögliche Strukturschwächen in der Versorgungssituation von Neugeborenen mit Hörstörung in Berlin zu identifizieren. Dazu wurden die Trackingdaten der Berlin-Brandenburger Zentrale für das Hörscreening bei Neugeborenen an der Charité in Bezug auf Qualitätsunterschiede in den unterschiedlichen Bezirken untersucht.

Material und Methoden: Im Rahmen der retrospektiven Auswertung (2013-22) wurde das diagnostische Intervall der in Berlin gemeldeten Kinder, bei denen eine Hörstörung diagnostiziert wurde, ermittelt und in Beziehung zum Wohnbezirk gesetzt. Der Vergleich der Mittelwerte des Diagnosealters erfolgte mittels ANOVA und mit einem Post-hoc-Test. Die Programmierung erfolgte in „R“. Des Weiteren wurde wohnortbezogen ermittelt, ob es zu einer unterschiedlich starken Nichtteilnahme kam. In einem zweiten Schritt wurden die bezirksspezifischen Angaben zu Hörstörungen mit entsprechenden soziökonomischen Parametern (Sozialstrukturindex) sowie wohnortbezogenen Versorgungsaspekten verglichen.

Ergebnisse: Im Untersuchungszeitraum wurde bei 553 Berliner Kindern eine Hörstörung durch das NHS diagnostiziert. Das mittlere Diagnosealter lag in allen 12 Bezirken zwischen 92 und 145 Tagen. Die höchste Nichtinanspruchnahme des NHS zeigte sich im Bezirk Neukölln. In den Bezirken Pankow, Spandau und Steglitz-Zehlendorf nahmen prozentual die meisten Kinder am NHS teil.

Diskussion: Insgesamt zeigt sich für Berlin weiterhin ein zu hohes Diagnosealter nach auffälligem NHS. Die heterogene Sozialstruktur scheint ein, jedoch nicht der alleinige Einflussfaktor auf die Inanspruchnahme des Screenings zu sein.

Fazit: Wohnortsbezogene Faktoren scheinen einen Einfluss auf die Teilnahme am NHS zu haben und sollten bei Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungsqualität berücksichtigt werden.


Text

Hintergrund

Wohnortspezifische Faktoren und der sozioökonomische Status haben einen großen Einfluss auf den Diagnosezeitpunkt und den Therapieerfolg vieler Erkrankungen, z.B. durch die unterschiedliche Teilnahme an Screening-Programmen [1], [2].

Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, mögliche Strukturschwächen in der Versorgungssituation von Neugeborenen mit einer Hörstörung in Berlin zu identifizieren. Dazu wurden die Trackingdaten der Berlin-Brandenburger-Zentrale für das Hörscreening bei Neugeborenen (NHS) an der Charité in Bezug auf Qualitätsunterschiede in den unterschiedlichen Bezirken untersucht.

Material und Methoden

Im Rahmen einer retrospektiven Auswertung (2013-2022) wurde das diagnostische Intervall, der in Berlin gemeldeten Kinder, bei denen eine Hörstörung diagnostiziert wurde, ermittelt und in Beziehung zum Wohnbezirk gesetzt. Der Vergleich der Mittelwerte und deren statistischer Signifikanz des Diagnosealters erfolgte mittels ANOVA und mit einem Post-hoc-Test (Turkey-Test) in R-Statistics. In einem zweiten Schritt wurden die Screeningdaten aller in Berlin geborenen Kinder in dem gesamten Untersuchungszeitraum nach Häufigkeiten ausgewertet. Hier wurde ein χ² Test angewendet und der Effekt nach Cohen bestimmt. Hierbei wurde wohnortbezogen berücksichtigt, ob es zu einer Nichtteilnahme kam. In einem dritten Schritt wurden die bezirksspezifischen Angaben zu Hörstörungen mit entsprechenden soziökonomischen Parametern (Sozialstrukturindex) sowie wohnortbezogenen Versorgungsaspekten verglichen. Um die soziale und gesundheitliche Lage in den Berliner Bezirken vergleichend zu analysieren, wurde der „Gesundheits- und Sozialindex (GESIx) 2022 Berlin“ verwendet [3].

Ergebnisse

Diagnosealter

Im Untersuchungszeitraum wurde bei 553 Berliner Kindern eine Hörstörung durch das NHS diagnostiziert. Das entspricht einer Prävalenz von 0,14%. Das mittlere Diagnosealter lag im gesamten Untersuchungszeitraum in allen 12 Bezirken zwischen 92 und 145 Tagen (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). In den Bezirken Reinickendorf (145 Tage, Standardabweichung SD = 86 Tage), Neukölln (126 Tage, SD = 93 Tage) und Spandau (123 Tage, SD = 102 Tage) lagen die höchsten, in den Bezirken Tempelhof-Schöneberg (92 Tage, SD = 70 Tage), Friedrichshain-Kreuzberg (98 Tage, SD = 68 Tage) und Steglitz-Zehlendorf (104 Tage, SD = 95 Tage) die niedrigsten mittleren Diagnosealter vor. Im Zeitverlauf zeigte sich eine deutliche Abnahme des Diagnosealters. So betrug es in den Jahren 2013/2014 jeweils 122 Tage (SD 121 bzw. 75 Tage), in den Jahren 2021/2022 108 bzw. 82 Tage (SD 74 bzw. 51 Tage). Bei hoher Varianz konnte jedoch keine Signifikanz festgestellt werden.

Nichtinanspruchnahme des NHS

In 21.127 Fällen lag der Screeningzentrale – trotz 3maliger schriftlicher Aufforderung – kein Screeningergebnis vor. Dies entspricht 5,5% aller Geburten im Untersuchungszeitraum. Die höchste Nichtinanspruchnahme des NHS (Angabe jeweils in % der bezirksspezifischen Geburtenrate) zeigte sich in den Bezirken Neukölln (8,6%), Mitte (6,2%) und Treptow-Köpenick (6,1%). In den Bezirken Lichtenberg (4,0%), Spandau (4,1%), Pankow (4,2%) und Steglitz-Zehlendorf (4,3%) war die Nichtinanspruchnahme des NHS am geringsten.

Diskussion

Insgesamt zeigt sich für Berlin – über den Zeitraum 2013 bis 2022 gemittelt – ein hohes Diagnosealter nach auffälligem NHS. Insbesondere unter Beachtung des Statements des Joint Committee on Infant Hearing (JCIH), das eine abgeschlossene audiologische Diagnostik bis spätestens zum 2. bzw. 3. Lebensmonat empfiehlt. Betrachtet man die zeitliche Entwicklung, zeigt sich eine deutliche Verbesserung, wenngleich bei einem mittleren Diagnosealter von 82 Tagen (SD = 51 Tage) weiterhin nicht die Empfehlung des JCIH – einer Diagnosestellung innerhalb der ersten 2 Lebensmonate – erreicht wird [4].

Tendenziell zeigten Bezirke mit einem niedrigen Gesundheits- und Sozialindex – wie Neukölln, Mitte oder Reinickendorf – höhere Werte sowohl im Diagnosealter als auch im prozentualen Anteil der Nichtteilnahme am NHS. Gleichzeitig konnte in Bezirken mit ebenfalls niedrigem bzw. mittlerem Gesundheits- und Sozialindex – wie z.B. Friedrichshain-Kreuzberg – dennoch ein vergleichsweise frühes Diagnosealter sichergestellt werden. Die heterogene Sozialstruktur scheint ein, jedoch nicht der alleinige Einflussfaktor auf die Inanspruchnahme des Screenings und das Diagnosealter zu sein.

Fazit/Schlussfolgerung

Wohnortsbezogene Faktoren und der sozioökonomische Status scheinen einen Einfluss auf die Teilnahme am NHS zu haben und sollten bei Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungsqualität berücksichtigt werden.


Literatur

1.
Pokora RM, Büttner M, Schulz A, Schuster AK, Merzenich H, Teifke A, et al. Determinants of mammography screening participation-a cross-sectional analysis of the German population-based Gutenberg Health Study (GHS). PLoS One. 2022;17(10):e0275525. DOI: 10.1371/journal.pone.0275525 Externer Link
2.
Frary CD, Thomsen P, Gerke O. Risk factors for non-participation in the Danish universal newborn hearing screening program: A population-based cohort study. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2020;135:110079. DOI: 10.1016/j.ijporl.2020.110079 Externer Link
3.
Referat für Gesundheitsberichterstattung E, Gesundheitsinformationssysteme, Statistikstelle. Gesundheits- und Sozialstrukturatlas. Berlin: Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung Berlin; 2022.
4.
Year 2019 Position Statement: Principles and Guidelines for Early Hearing Detection and Intervention Programs. Journal of Early Hearing Detection and Intervention. 2019;4(2):1-44. DOI: 10.15142/fptk-b748 Externer Link