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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Welche klinische Relevanz hat die Diskrepanz zwischen auffälligem TEOAE-Befund und unauffälligem AABR-Ergebnis bei Neugeborenen?

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Donata Gellrich - Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO-Universitätsklinik der LMU, München, Deutschland
  • Moritz Gröger - Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO-Universitätsklinik der LMU, München, Deutschland
  • Matthias Echternach - Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO-Universitätsklinik der LMU, München, Deutschland
  • Katharina Eder - Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO-Universitätsklinik der LMU, München, Deutschland; Abteilung Hören – Sprache – CI, kbo-Kinderzentrum München gemeinnützige GmbH, München, Deutschland
  • Patrick Huber - Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO-Universitätsklinik der LMU, München, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocV17

doi: 10.3205/23dgpp29, urn:nbn:de:0183-23dgpp294

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Gellrich et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Das Universelle Neugeborenen-Hörscreening (UNHS) gilt als bestanden, wenn Neugeborene ein „pass“ im BERA-Screening (AABR) erreichen, auch wenn die transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE) nicht ausreichend reproduzierbar sind. Die vorliegende Studie untersucht, inwiefern Neugeborene mit Diskrepanz zwischen regelrechtem AABR-Befund und auffälligem TEOAE-Ergebnis von Hörstörungen betroffen sind.

Material und Methoden: Es erfolgte eine retrospektive Datenanalyse von Neugeborenen, die sich zwischen 01/2018 und 12/2021 aufgrund eines auswärtigen auffälligen UNHS in unserer pädaudiologischen Sprechstunde vorstellten. Einschlusskriterium war neben dem Alter (0-7 Lebensmonate bei Erstvorstellung) ein vollständig vorliegender audiometrischer Datensatz (AABR, TEOAE, DPOAE und Tympanometrie).

Ergebnisse: Von den 863 eingeschlossenen Säuglingen zeigten 190 Babies (271 Ohren) die Konstellation AABR+/TEOAE-. Von den betroffenen 271 Ohren kehrten 168 Ohren (62%) zum 1-Jahres-Follow-up zurück. Dabei ergaben sich in 49 Ohren (29%) unauffällige audiometrische Befunde, in 60 Ohren (36%) eine isolierte Schallleitungsstörung bei Paukenerguss, in 29 Ohren (17%) eine isolierte sensorineurale Schwerhörigkeit, in einem Ohr (0,6%) eine Schallleitungsstörung ohne Paukenerguss und in sechs Ohren (3,6%) eine kombinierte Schwerhörigkeit bei Schallempfindungsstörung und Paukenerguss. 23 Ohren (14%) wiesen im 1-Jahres-Follow-up auffällige Befunde auf, ließen sich aber mangels frequenzunterscheidender BERA keiner der o.g. Gruppen zuordnen.

Im Longterm-Follow-up benötigten 67 von 168 Ohren (40%) Therapie (eine Cochleaimplantation, 35 Hörgeräte und 31 Paukenröhrchen). Der Schweregrad der bleibenden Schwerhörigkeiten war zumeist mild (72% vs. 17% mittelgradig vs. 11% mindestens hochgradig).

In Summe unterscheiden sich die Ergebnisse stark von den 349 Neugeborenen (698 Ohren) mit gänzlich unauffälligem Hörscreening, auch das Profil an Risikofaktoren für eine frühkindliche Schwerhörigkeit betreffend.

Diskussion: Trotz einiger Limitationen aufgrund des Studiendesigns zeigen die Daten deutlich, dass Neugeborene mit nicht ausreichend reproduzierbaren TEOAE trotz unauffälligen BERA-Screeningbefunds ein erhöhtes Risiko für Hörstörungen am Ende des ersten Lebensjahrs aufweisen, überwiegend aufgrund persistierender Paukenergüsse oder zumeist milder sensorineuraler Schwerhörigkeit.

Fazit: Bei Neugeborenen mit nicht ausreichend reproduzierbaren TEOAE empfiehlt sich auch im Fall eines regelrechten AABR-Befunds eine pädaudiologische Verlaufskontrolle.


Text

Hintergrund

Das Universelle Neugeborenen-Hörscreening (UNHS) gilt gemäß den Kinderrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses [1] als bestanden, wenn Neugeborene ein „pass“ (im Folgenden als + bezeichnet) im BERA-Screening (AABR) erreichen, auch wenn die transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE) nicht ausreichend reproduzierbar sind (im Folgenden als - bezeichnet). Da der Stimulus der AABR in der Regel um 35 dB nHL gewählt wird, erscheint denkbar, dass geringgradige Hörschädigungen auf diese Weise übersehen werden. Allerdings sind bereits geringgrade Hörstörungen in der Kindheit entwicklungsrelevant [2], [3].

Die vorliegende Studie untersucht, in welchem Ausmaß Neugeborene mit Diskrepanz zwischen regelrechtem AABR-Befund und auffälligem TEOAE-Ergebnis von Hörstörungen betroffen sind.

Material und Methoden

Es erfolgte eine retrospektive Datenanalyse von Neugeborenen, die sich zwischen 01/2018 und 12/2021 aufgrund eines auswärtigen auffälligen UNHS in unserer pädaudiologischen Sprechstunde vorstellten. Einschlusskriterium war neben dem Alter (0-8 Lebensmonate bei Erstvorstellung) ein vollständig vorliegender audiometrischer Datensatz (AABR, TEOAE, DPOAE und Tympanometrie). Neugeborenen mit Diskrepanz zwischen regelrechtem AABR-Befund, aber nicht ausreichend reproduzierbaren TEOAEs wurde eine Verlaufskontrolle im Alter von 9 und 12 Lebensmonaten angeraten; im Fall erneut auffälliger Befunde wurde eine elektrophysiologische Hörschwellenbestimmung mittels frequenzunterscheidender Hirnstammaudiometrie durchgeführt.

Ergebnisse

Von den 863 eingeschlossenen Säuglingen zeigten 190 Babies (271 Ohren) die Konstellation AABR+/TEOAE-.

Die übrigen Neugeborenen zeigten die Konstellation AABR+/TEOAE+ in 349 Fällen, AABR-/TEOAE- bilateral in 231 Fällen, AABR-/TEOAE- unilateral in 88 Fällen und AABR-/TEOAE+ in 5 Fällen.

Von den betroffenen 271 Ohren mit AABR+/TEOAE- kehrten 168 Ohren (62%) zum 1-Jahres-Follow-up zurück. Dabei ergaben sich bei 49 Ohren (29%) unauffällige audiometrische Befunde, bei 60 Ohren (36%) eine isolierte Schallleitungsstörung bei Paukenerguss, bei 29 Ohren (17%) eine isolierte sensorineurale Schwerhörigkeit, bei einem Ohr (0,6%) eine Schallleitungsstörung ohne Paukenerguss und bei sechs Ohren (3,6%) eine kombinierte Schwerhörigkeit bei Schallempfindungsstörung und Paukenerguss. 23 Ohren (14%) wiesen im 1-Jahres-Follow-up auffällige Befunde auf, ließen sich aber keiner der o.g. Gruppen zuordnen, da sie zur empfohlenen frequenzunterscheidenden BERA nicht erschienen.

Im Longterm-Follow-up benötigten 67 von 168 Ohren (40%) eine Therapie (eine Cochleaimplantation, 35 Hörgeräte und 31 Paukenröhrchen). Der Schweregrad der bleibenden Schwerhörigkeiten war zumeist mild (72% vs. 17% mittelgradig vs. 11% mindestens hochgradig).

Die Rate an Spontanregredienz von Paukenergüssen, die bei Erstvorstellung bestanden, lag bei 29%.

In Summe unterscheiden sich die Ergebnisse stark von den 349 Neugeborenen mit gänzlich unauffälligem Hörscreening (698 Ohren). Das Profil an vorhandenen Risikofaktoren für eine frühkindliche Schwerhörigkeit bei den Neugeborenen mit Diskrepanz zwischen AABR und TEOAE ähnelt dem Profil von Säuglingen mit komplett auffälligen Screeningbefunden (AABR-/TEOAE-) deutlich mehr als dem Profil von Säugling mit komplett unauffälligen Screeningbefunden. Vor allem aber besteht eine stärkere Assoziation zwischen dem Vorhandensein von Risikofaktoren und der Prävalenz einer Schwerhörigkeit (AABR+/TEOAE- OR 3,19 mit 95%-KI 1,40 bis 7,24 vs. AABR-/TEOAE- OR 1,29 mit 95%-KI 0,54 bis 3,13).

Diskussion

Trotz einiger Limitationen aufgrund des retrospektiven Studiendesigns zeigen die Daten klar auf, dass Neugeborene mit nicht ausreichend reproduzierbaren TEOAE trotz unauffälligen BERA-Screeningbefunds ein erhöhtes Risiko für Hörstörungen am Ende des ersten Lebensjahrs aufweisen, überwiegend aufgrund persistierender Paukenergüsse oder aufgrund zumeist milder sensorineuraler Schwerhörigkeit. Die Wahrscheinlichkeit einer Spontanregredienz von kongenitalen Paukenergüssen erscheint vergleichbar zu den Daten von Karawani H und Kollegen [4] geringer als bei erworbenen Paukenergüssen, weshalb häufig eine Paukendrainage notwendig wird. Da selbst isolierte Schallleitungsstörungen im Kindesalter durch Paukenergüsse problematisch für die Entwicklung der Betroffenen sein können [5], [6], erscheint eine pädaudiologische Anbindung betroffener Neugeborener sinnvoll. Besonders wichtig erscheint eine Verlaufskontrolle bei Kindern mit Risikofaktoren.

Fazit

Um keine Hörschädigungen in der sensiblen Phase der Sprachentwicklung zu übersehen, ist eine pädaudiologische Anbindung von Neugeborenen mit auffälligen TEOAE im UNHS sinnvoll - auch dann, wenn ein unauffälliger BERA-Screeningbefund vorliegt.


Literatur

1.
Kinder-Richtlinie (Neugeborenen-Hörscreening) des Gemeinsamen Bundesausschusses. BAnz. Nr. 146 (S. 3 484). 2008 Sep 25. Verfügbar unter: https://www.g-ba.de/beschluesse/681/ Externer Link
2.
Tomblin JB, Harrison M, Ambrose SE, Walker EA, Oleson JJ, Moeller MP. Language Outcomes in Young Children with Mild to Severe Hearing Loss. Ear Hear. 2015;36:76S-91S. DOI: 10.1097/AUD.0000000000000219 Externer Link
3.
Stika CJ, Eisenberg LS, Johnson KC, Henning SC, Colson BG, Ganguly DH, et al. Developmental outcomes of early-identified children who are hard of hearing at 12 to 18 months of age. Early Hum Dev. 2015;91(1):47-55. DOI: 10.1016/j.earlhumdev.2014.11.005 Externer Link
4.
Karawani H, Matanis W, Na'ara S, Gordin A. Middle ear effusion and newborn hearing screening. Eur Arch Otorhinolaryngol. 2023;280(2):643-649. DOI: 10.1007/s00405-022-07524-2 Externer Link
5.
Whitton JP, Polley DB. Evaluating the perceptual and pathophysiological consequences of auditory deprivation in early postnatal life: a comparison of basic and clinical studies. J Assoc Res Otolaryngol. 2011;12(5):535-47. DOI: 10.1007/s10162-011-0271-6 Externer Link
6.
Tomlin D, Rance G. Long-term hearing deficits after childhood middle ear disease. Ear Hear. 2014;35(6):e233-42. DOI: 10.1097/aud.0000000000000065 Externer Link