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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Untersuchung supraglottischer Vibrationsmuster im Pop-/Rockgesang mittels Hochgeschwindigkeitsendoskopie und Elektroglottographie sowie abhängiger resonatorischer Eigenschaften der Vokaltraktkonfiguration

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Louisa Traser - Institut für Musikermedizin, Universitätsklinikum und Hochschule für Musik, Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg, Deutschland
  • author Marie Köberlein - Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde des Klinikums der Universität München (LMU), München, Deutschland
  • author Daniel Priegnitz - www.vocalsontherocks.de, Freiburg, Deutschland
  • author Johannes Fischer - Klinik für Radiologie, Abteilung für medizinische Physik, Universitätsklinikum, Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg, Deutschland
  • author Mario Fleischer - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • author Jonas Kirsch - Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde des Klinikums der Universität München (LMU), München, Deutschland
  • author Bernhard Richter - Institut für Musikermedizin, Universitätsklinikum und Hochschule für Musik, Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg, Deutschland
  • author Matthias Echternach - Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde des Klinikums der Universität München (LMU), München, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocV10

doi: 10.3205/23dgpp18, urn:nbn:de:0183-23dgpp188

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Traser et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Supraglottische Vibrationen treten im stimmmedizinischen Kontext im Rahmen von Stimmstörungen auf oder werden bewusst zum Ersatz der Stimmlippenvibration trainiert. Im künstlerischen Kontext werden supraglottische Vibrationen häufig in der Pop-/ Rockmusik eingesetzt und als gutturale Stimmqualitäten bezeichnet. Die Steuerungsmechanismen supraglottischer Vibrationen sind weitgehend unverstanden

Material und Methoden: Ziel dieser Untersuchung war es Kombinationen an glottalen und supraglottischen Vibrationsmustern bei einem professionell trainierten Rock-Sänger mittels transnasaler Hochgeschwindigkeitsendoskopie (20k Bilder/s.) sowie simultaner Elektroglottographie zu analysieren. Beim Glissando über das typische Range 10 unterschiedlicher gutturaler Qualitäten wurden sowohl der Übergang in die gutturale Technik, als auch ein Abschnitt stabiler Phonation aus der Start- und Endfrequenz analysiert. Resonatorische Eigenschaften des Vokaltraktes wurden aus 3D Magnetresonanztomographie-Aufnahmen bestimmt.

Ergebnisse: Grundsätzlich konnten 3 Typen von gutturalen Stimmqualitäten differenziert werden: 1) glottale Vibrationen mit reduzierter Periodizität, 2) gleichzeitige Vibrationen der Stimmlippen und der supgraglottischen Strukturen in verschiedener Ausprägung (Teilvibration vs. Vollschluss der Taschenfalten) sowie unterschiedlichen Verhältnissen zueinander (z.B. gleiche Frequenz von Stimmlippen und Taschenfalten, Änderung Stimmlippenfrequenz bei gleichbleibender Taschenfaltenfrequenz, konstantes Verhältnis von Stimmlippen zu Taschenfaltenfrequenz von 2:1, Abnahme der Taschenfaltenfrequenz bei gleichzeitiger Zunahme der Stimmlippenfrequenz), 3) primär supraglottische Vibrationen (z.B. Vibration der Epiglottis, der Aryknorpel). Dabei unterschieden sich die Qualitäten auch in der Vokaltraktkonfiguration und -Länge sowie in ihren resonatorischen Eigenschaften.

Diskussion: Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Steuerung supraglottischer Vibrationen in unterschiedlichen Relationen zur Stimmlippenschwingung, aber auch unabhängig davon, möglich ist mit hoher Reproduzierbarkeit trainiert werden kann.

Fazit: Ein besseres Verständnis dieser Mechanismen könnte neue Anwendungsbereiche im stimmtherapeutischen Kontext ermöglichen.


Text

Hintergrund

Vibrationen in supraglottisch gelegenen Regionen wie den Taschenfalten (TF) sind in der Erzeugung der menschlichen Stimme häufig unerwünscht und treten z.B. im Rahmen funktioneller Stimmstörungen auf und gehen mit einer erhöhten Rauigkeit des Stimmklangs einher [1], [2]. Sie können jedoch z.B. nach Verlust der Vibrationsfähigkeit der Stimmlippen (SL) (z.B. nach onkochirurgischen Eingriffen) auch bewusst trainiert werden, um die Kommunikationsfähigkeit einer/s PatientIn wiederherzustellen [3]. Rauigkeit hat auch psychoakustische Auswirkungen und supraglottische Vibrationen werden daher bewusst künstlerisch eingesetzt und in diesem Zusammenhang als gutturale Stimmqualität (von „guttur“, lateinisch für Gurgel, Kehle) bezeichnet. Dieser Begriff umfasst eine große Bandbreite an Stimmqualitäten mit unterschiedlicher Rauigkeit in Kombination mit anderen Klangeigenschaften. Stimmwissenschaftliche Analysen dieser Techniken sind rar und basierten meist auf Laryngostroboskopie sowie Elektroglottographie (EGG) [4], [5], [6]. Da supraglottische Vibrationen mit erhöhter Irregularität einhergehen [7], ist die Stroboskopie jedoch limitiert. Wenige Hochgeschwindigkeitsaufnahmen erfolgten bisher nur transoral, starr und stellen daher eine Limitation in der Artikulationsfähigkeit der/s ProbandIn dar [8], [9], [10], [11]. Eine einheitliche Definition dieser Techniken fehlt daher und die Steuerungsmechanismen supraglottischer Vibrationen sind nicht ausreichend gut verstanden.

Material und Methoden

Ziel dieser Untersuchung war es, Kombinationen an glottalen und supraglottischen Vibrationsmustern bei einem professionell trainierten Rock-Sänger mittels transnasaler Hochgeschwindigkeitsendoskopie mit einer zeitlichen Auflösung von 20.000 Bildern/Sek. sowie simultaner Elektroglottographie (EGG) und Audioaufnahme zu analysieren (Details siehe [12], um ein tieferes Verständnis supraglottischer Vibrationen zu erlangen. Während der Endoskopie wurde der Sänger gebeten ein Glissando auf Vokal [i:] über einen typischen Range von 10 unterschiedlicher gutturaler Qualitäten zu phonieren (Rattle, Unterton, Growl, Distortion, Grunt, Deathgrowl, Deathshout, Fry, Fryscream, False Cord Shout). Da es keine einheitlich anerkannte Bezeichnung oder Definition dieser Stimmqualitäten gibt, wurde die Klassifikation allein durch die Expertise des Sängers anerkannt. Aus den Hochgeschwindigkeitsaufnahmen wurde ein 100ms (2000 Bilder) langer Abschnitt stabiler Phonation aus der Start- sowie der Endfrequenz extrahiert und die supraglottischen Strukturen, analog zur „glottal area waveform, GAW“ als „supraglottal area waveform, SAW“ segmentiert. Diese wurde zusammen mit dem simultan aufgezeichneten EGG und dem Audio-Signal analysiert. Resonatorische Eigenschaften des Vokaltraktes wurden aus 3D MRT Rekonstruktionen bestimmt [13].

Ergebnisse

Alle 10 analysierten Techniken zeichneten sich durch Unterschiede in SAW und EGG aus. Grundsätzlich konnten 3 Typen differenziert werden:

1.
Primär glottale Vibrationen mit reduzierter Periodizität (Grunt, Fry)
2.
Gleichzeitige Vibrationen der SL und der supgraglottischen Strukturen (Rattle, Unterton, Growl und Distortion) in verschiedener Ausprägung (Teilvibration vs. Vollschluss der TF) sowie unterschiedlichen Verhältnissen zueinander
3.
Primär supraglottische Vibrationen (z.B. Vibration der Epiglottis, der Aryknorpel) (Deathgrowl, Deathshout, Fryscream, False Cord Shout)

Der Sänger konnte dabei bewusst die Grundfrequenz der in Gruppe 2 zusammengefassten Techniken in einem gewissen Rahmen variieren und Tonhöhen ansteuern, während dies in den Qualitäten der Gruppe 1 und 3 nicht möglich war. Während bei den Qualitäten der Gruppe 1 nur marginale supraglottische Bewegungen detektiert wurden, zeigten sich in Gruppe 2 simultane Vibrationen der SL und der TF. In Gruppe 3 zeigten sich ausgeprägte Vibrationen verschiedener supragottischer Strukturen. Die SL waren nicht sichtbar, sodass keine sichere Aussage getroffen werden kann, ob diese in den Schwingungsablauf involviert sind. Die in Gruppe 2 zusammengefassten Stimmqualitäten wurden differenziert in ihrer Start- und Endfrequenz hinsichtlich der SL- und TF-Schwingung analysiert: Alle 4 Techniken wiesen dabei unterschiedliche Assoziationen zwischen SL- und TF-Frequenz auf. Growl war charakterisiert durch eine gleichbleibende Grundfrequenz der TF-Vibration mit vollständigem Schluss, während eine Variation der SL-Frequenz erfolgte. Die supraglottischen Vibrationen waren im Vergleich zu den anderen Techniken der Gruppe 2 besonders ausgeprägt und schlossen auch den Ary und die Basis der Epiglottis mit ein. Es konnte eine in ihrer Amplitude kleinere Unterschwingung mit Teilschluss der TF beobachtet werden. Beim Unterton vibrierten SL und TF im Verhältnis 2:1 mit vollständigem Schluss der TF. Dabei wies die TF-Vibration ebenfalls eine Unterschwingung in doppelter Frequenz mit Teilschluss auf. Distortion zeigte lediglich Teilvibrationen der TF im Verhältnis 1:1 zu den SL. Auch hier war die Vibration der Taschenfalte bei jedem zweiten Schwingungszyklus etwas stärker ausgeprägt. Rattle war charakterisiert durch unterschiedliche Verhältnisse der SL- zur TF-Vibrationsfrequenz im Verhältnis 4:1 bis 7:1 mit nahezu vollständigem TF Schluss. Wieder zeigten sich dabei in jeder TF Vollschwingung zwei in der Vibrationsamplitude deutlich reduzierte Unterschwingungen im anterioren Drittel. Beispielhaft zeigen Abbildung 1 [Abb. 1] und Abbildung 2 [Abb. 2] jeweils einen TF Schwingungszyklus von Rattle und Distortion der gleichen SL-Grundfrequenz (D4, 294Hz).

Diskussion

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Steuerung supraglottischer Vibrationen in unterschiedlichen Relationen zur Stimmlippenschwingung, aber auch unabhängig davon, möglich ist. Die Muskulatur der TF liegt lateral des Drüsenkörpers und ist primär im posterioren Bereich lokalisiert [14], [15]. Ob ihre Aktivierung mit einer Adduktion der darüber liegenden Drüsenstruktur assoziiert ist wird kontrovers diskutiert [14], [15], [16]. In der vorliegenden Untersuchung war die Vibration der TF als Teilschwingung (Distortion) sowie als Unterschwingung (bei allen Qualitäten der Gruppe 2) mit einer Vibration des anterioren TF Drittels assoziiert. Dies legt nahe, dass dieser Bereich (möglicherweise durch das Fehlen muskulärer Strukturen) andere myeloelastische Eigenschaften ausweist als der posteriore Anteil der TF. Die Teilschwingungen waren dabei jedoch unterschiedlich akustisch relevant.

Fazit

Ein besseres Verständnis dieser Mechanismen könnte neue Anwendungsbereiche im stimmtherapeutischen Kontext ermöglichen und legt eine weiterführende Analyse bei zukünftig mehr Probanden nahe.


Literatur

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Aaen M, et al. Laryngostroboscopic Exploration of Rough Vocal Effects in Singing and their Statistical Recognizability: An Anatomical and Physiological Description and Visual Recognizability Study of Distortion, Growl, Rattle, and Grunt using laryngostroboscopic Imaging. J Voice. 2020;34:162.e5-162.e14.
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