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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Wirksamkeit des unterstützenden Verfahrens Naturmethode im Rahmen der Selbsthilfe hinsichtlich Symptomreduktion und Lebensqualitätssteigerung stotternder Erwachsener

Poster

  • author presenting/speaker Amélie Hesping - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • Asil Kehail - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • Ludwig Werle - Stotterer-Selbsthilfegruppe Daun, Daun, Deutschland
  • Berthold Wauligmann - Stotterer-Selbsthilfegruppe Münster, Münster, Deutschland
  • Thorsten Hesse - Stotterer-Selbsthilfegruppe Magdeburg, Magdeburg, Deutschland
  • Arno Markmann - Stotterer-Selbsthilfegruppe Weil am Rhein, Weil am Rhein, Deutschland
  • Rainer Ostermeier - Stotterer-Selbsthilfegruppe Augsburg, Augsburg, Deutschland
  • Corinna Gietmann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • corresponding author Katrin Neumann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocP4

doi: 10.3205/23dgpp10, urn:nbn:de:0183-23dgpp104

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Hesping et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Seit vielen Jahren wird in Deutschland in Selbsthilfegruppen für Erwachsene, die stottern (EDS) mit der sogenannten Naturmethode eine veränderte Sprechtechnik eingeübt. Bisher fehlen Belege zur Wirksamkeit von Selbsthilfe für EDS und zur Naturmethode. Kern der Naturmethode ist die Sprech-Patenschaft: Vom Stottern selbst Betroffene, denen die Naturmethode geholfen hat, unterstützen andere EDS. Bausteine sind: 1. Einüben einer veränderten Sprechweise (langsameres Sprechen, kürzere Sprechabschnitte, Pausen, fließende Betonung), 2. eine tiefe und ökonomische Atemtechnik, 3. Bewusstmachen der Auswirkungen des Stotterns auf das eigene Denken, Handeln und Selbst-Affirmationen. Weitere Besonderheit der Naturmethode ist ihr direkter Einbezug in Selbsthilfegruppentreffen. Inwiefern mit Hilfe der Naturmethode eine Verbesserung der Sprechflüssigkeit und ein Abbau von psycho-emotionaler Belastung erreicht werden, wurde mithilfe dieser Pilotstudie erstmals erfasst.

Material und Methoden: 17 Teilnehmende (6 Drop-outs) trainierten die Naturmethode über 2 Jahre. Vor und nach diesem Zeitraum wurden Videos in drei Sprechsituationen (Vorlesen, Gespräch, Vortrag) erstellt und die stotterbezogene Lebensqualität mit Fragebögen (Overall Assessment of the Speakers’ Experience with Stuttering) erfasst. Der Schweregrad des Stotterns, bestimmt durch den prozentualen Anteil gestotterter Silben und die Dauer der längsten Stotterereignisse, wurde mit dem Stuttering Severity Instrument - Fourth edition (SSI-4) erhoben.

Ergebnisse: Mithilfe der Naturmethode konnte eine deutliche Reduktion der Stotterschwere erreicht werden. Im Mittel stotterten die Teilnehmenden vor Intervention 9,9 % (SD = 7,7 %) aller Silben, danach 1,1 % (SD = 1,2 %), gemäß gerichtetem Wilcoxon-Test ist dieser Unterschied signifikant (V = 66, p < .001). Die längsten Stotterereignisse dauerten vorher im Mittel 2,7 Sekunden (SD = 2 sec.), nachher 0,39 Sekunden (SD 0,28 sec.), auch hier zeigt ein gerichteter t-Test eine signifikante Verringerung nach Intervention (t = 1,48, p < .001). Ebenso war die sozio-emotionale Beeinträchtigung durch das Stottern nach der Intervention signifikant geringer als vorher (t = 4,43; p <. 001).

Diskussion: In dieser Pilotstudie konnten wir zeigen, dass sich Trainingsmethoden wie die Naturmethode und die Etablierung eines Sprechpaten positiv auf die Stottersymptomatik und die Lebensqualität Betroffener auswirken können.

Fazit: Die Naturmethode könnte damit eine Erweiterung des Repertoires von Interventionen für EDS bieten.


Text

Hintergrund

Seit vielen Jahren wird in Deutschland in Selbsthilfegruppen für Erwachsene, die stottern (EDS) mit der sogenannten Naturmethode eine veränderte Sprechtechnik eingeübt. Bisher fehlen wissenschaftliche Belege sowohl zur Wirksamkeit von Selbsthilfe für EDS, als auch zur in diesem Rahmen angewendeten Naturmethode auf die langfristige Reduktion der Stottersymptomatik und der mit dem Stottern verbundenen sozio-emotionalen Folgen. Grundidee der Naturmethode ist die Sprech-Patenschaft: Vom Stottern selbst betroffene Menschen, die mit Hilfe der Naturmethode eine positive Entwicklung zum natürlicheren Sprechen durchlaufen haben, unterstützen andere EDS in Seminaren, Gruppentreffen, Telefonaten und persönlichen Treffen. Bausteine der Intervention sind v.a.:

1.
Das Einüben einer veränderten Sprechtechnik mit langsamerem Sprechtempo, kürzeren Sprechabschnitten, längeren Sprechpausen, gebundenem Sprechen, bei dem einzelne Wörter ähnlich wie beim Singen miteinander verbunden werden, und einer regelmäßigen, fließenden Betonung;
2.
eine ruhige und tiefe Atemtechnik;
3.
mentales Training: Bewusstmachen des eigenen Stotterns und seiner Auswirkungen auf das eigene Denken und Handeln, sowie Selbst-Affirmationen [1].

Eine Besonderheit der Naturmethode ist ihr direkter Einbezug in Treffen der Selbsthilfegruppen für EDS. Dies ermöglicht den Teilnehmenden den Austausch über ihr Stottern und die erfolgte Therapie sowie die direkte Anwendung der erlernten Techniken.

Primäres Ziel einer Stottertherapie sollte eine Verbesserung der Sprechflüssigkeit sein, möglichst wenig auf Kosten der Sprechnatürlichkeit. Weitere Therapieziele sind der Abbau von psycho-emotionaler Belastung durch das Stottern und eine Verbesserung der sozialen Teilhabe [2]. Inwiefern diese Ziele mit Hilfe der Naturmethode erreicht werden, wurde in der aktuellen Pilotstudie erstmals erfasst.

Material und Methoden

17 Teilnehmende (2 Drop-outs) trainierten die Naturmethode mit Hilfe von Sprech-Paten über einen Zeitraum von 2 Jahren. Videoaufnahmen von jedem/r Teilnehmenden in drei Sprechsituationen (à 300 Silben: Vorlesen, Gespräch, Vortrag; [3]) wurden im Rahmen der Selbsthilfe vor und nach dem zweijährigen Zeitraum zum Zweck eines Videofeedbacks erstellt. Die stotterbezogene Lebensqualität wurde mit den standardisierten und validierten Fragebögen OASES (Overall Assessment of the Speakers’ Experience with Stuttering; [4]) wurde vor und nach der Intervention erfasst, der Schweregrad des Stotterns mittels standardisierter Auswertung von Videos mit dem SSI-4 (Stuttering Severity Instrument - Fourth edition; [5]).

Ergebnisse

Mit der Naturmethode konnte eine deutliche Reduktion der Stotterschwere beobachtet werden. Im Mittel stotterten die Teilnehmenden vor der Intervention 9,9 % (SD [Standardabweichung] = 7.7 %) aller gesprochenen Silben, nach Intervention 1,1 % (SD = 1,2 %), gemäß gerichtetem Wilcoxon-Test zeigte sich dieser Unterschied als signifikant (V = 66, p < .001). Die längsten Stotterereignisse dauerten vor Intervention durchschnittlich 2,7 Sekunden (SD = 2 sec.), nach der Intervention 0,39 Sekunden (SD = 0,28 sec.), auch hier zeigt ein gerichteter t-Test eine signifikant niedrigeren Wert nach Intervention (t = 1,48, p < .001). Ebenso war die Beeinträchtigung durch das Stottern nach der Intervention signifikant entsprechend OASES geringer als vorher (t = 4,43; p <. 001).

Abbildung 1 [Abb. 1], Abbildung 2 [Abb. 2]

Diskussion und Fazit

In dieser Beobachtungsstudie konnten wir eine deutliche Reduktion der Stottersymptomatik und der sozio-emotionalen Folgen des Stotterns mithilfe der im Rahmen der Selbsthilfe für Erwachsene, die stottern (EDS) angewendeten Intervention Naturmethode aufzeigen. Die Naturmethode könnte eine Erweiterung des Repertoires von Interventionen bei Stottern bieten, unter Nutzung einer erwarteten positiven Wirkung von Selbsthilfegruppen. Insbesondere für Erwachsene ist i.d.R. keine „Heilung“ vom Stottern mehr möglich, hier konnten wir zeigen, dass sich Trainingsmethoden wie die Naturmethode positiv auf das Sprechverhalten und die Lebensqualität Betroffener auswirken können. Ein Nachweis der Wirksamkeit der Naturmethode ist limitiert durch die kleine Stichprobe und die zum aktuellen Zeitpunkt noch fehlende Auswertung der Sprechnatürlichkeit und der Testwerte einer Kontrollgruppe.


Literatur

1.
Wauligmann B. Einführung in die Neturmethode. In: Stottern & Selbsthilfe Baden-Württemberg e.V., Hrsg. Tagungsband. 41. Kongress Stottern und Selbsthilfe. 2.-5. Oktober 2014 in Heidelberg. Köln: Demosthenes; 2014. S. 30-33.
2.
Neumann K, Euler HA, Bosshardt HG, Cook S, Sandrieser P, Schneider P, Sommer M, Thum G; Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Pathogenese, Diagnostik und Behandlung von Redeflussstörungen. Evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie. AWMF-Registernummer 049-013. Version 1. 2016 [Zugegriffen am 06.07.2023]. Verfügbar unter: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/049-013.html Externer Link
3.
Euler HA, v Gudenberg AW. Die Kasseler Stottertherapie (KST). Ergebnisse einer computer-gestützten Biofeedbacktherapie für Erwachsene. Sprache Stimme Gehör. 2000 Jun;24(2):71-9.
4.
Yaruss JS, Quesal RW. Overall Assessment of the Speaker's Experience of Stuttering (OASES): Documenting multiple outcomes in stuttering treatment. J Fluency Disord. 2006 Dec 31;31(2):90-115.
5.
Riley GD. SSI-4: Stuttering severity instrument. 4th ed. Austin (TX): Pro-Ed; 2009.
6.
Bakker K, Riley GD. Computerized scoring of stuttering severity. v 2.0. Austin (TX): Pro-Ed; 2009.