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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Zum Zusammenhang von persistierenden frühkindlichen Reflexen und der Sprachentwicklung. Eine Literaturrecherche

Poster

  • author Friederike Ifferth - Abteilung Sprechwissenschaft und Phonetik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland
  • author Stephanie Kurtenbach - Abteilung Sprechwissenschaft und Phonetik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland
  • corresponding author presenting/speaker Susanne Voigt-Zimmermann - Abteilung Sprechwissenschaft und Phonetik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocP3

doi: 10.3205/23dgpp08, urn:nbn:de:0183-23dgpp083

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Ifferth et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Frühkindliche Reflexe sind genetisch festgelegte Bewegungsmuster und wesentlicher Bestandteil der frühkindlichen Entwicklung. In den ersten drei Lebensjahren werden Reflexbewegungen zunehmend durch Willkürmotorik abgelöst. Geschieht dieser Ablöseprozess nicht oder nur unvollständig (Resultat: verbleibende Restreaktionen), sind Lern- und Verhaltensprobleme mögliche Folgen. Es stellte sich die Frage, ob und inwieweit Restreaktionen frühkindlicher Reflexe (RRFR) als mögliche Ursache von Sprachentwicklungsstörungen (SES) gelten.

Material und Methoden: Mittels Literaturrecherche, u.a. in den Fachdisziplinen Neuro- und Entwicklungspsychologie, Pädiatrie, Sprachtherapie/Logopädie und Psychomotorik wurde für eine Übersichtsarbeit zu Suchbegriffen, wie „Persistierende frühkindliche Reflexe“, „Reflexintegrationsprogramm“, „Sprachentwicklung“, „Sprachentwicklungsstörungen“, „Vorausläuferfähigkeiten“, die Fra-gestellung bearbeitet: Wie wirken sich RRFR auf die Sprachentwicklung und deren Vorausläuferfähigkeiten aus?

Ergebnisse: Prä-, peri und postnatal auftretende Faktoren, wie Nährstoff- und Bewegungsmangel während der Schwangerschaft, Sauerstoffmangel unter der Geburt, Unfälle und Erkrankungen im frühen Kindesalter, stören nicht nur die kindliche Entwicklung, sondern können auch Restreaktionen frühkindlicher Reflexe (RRFR) zurücklassen, die sich negativ auf Lernvermögen, Konzentrationsfähigkeit, Sensorik und Motorik auswirken und u.U. bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. RRFR können aber auch die Sprachentwicklung beeinträchtigen. Dabei zeigt sich, dass die RRFR, z.B. Furcht-Lähmungs-Reflex, Moro-Reflex, Tonischer Labyrinth-Reflex, Asymmetrisch Tonischer Nackenreflex und Saug- und Suchreflex, auf mehreren unterschiedlichen Sprachentwicklungsebenen Auswirkungen haben können. Ein persistierender Saug- und Suchreflex etwa löst auf spezifische Reize hin ein Saugen aus, das Gesichts-, Lippen- und Zungenverspannungen zur Folge hat und z.B. Artikulation und Myofunktion im Kindes- wie auch im Erwachsenenalter beeinflusst.

Diskussion: RRFR sollten in die multifaktorielle Ursachenbetrachtung von SES aufgenommen werden. Einen Beitrag hierzu können Studien zum Zusammenhang von persistierenden frühkindlichen Reflexen und Sprachentwicklungssymptomen wie auch zur Wirksamkeit von Reflexintegrationsprogrammen in Verbindung mit sprachlichen Verbesserungen leisten.

Fazit: Eine multifaktorielle Ursachenrecherche von SES, welche das Vorhandensein von RRFR mitberücksichtigt, ermöglicht ein frühzeitiges Aufdecken von Entwicklungsbeeinträchtigungen und ebnet den Weg für eine baldige spezifische Intervention, um SES vorzubeugen.


Text

Hintergrund

Frühkindliche Reflexe sind genetisch festgelegte Bewegungsmuster und ein wesentlicher Bestandteil der frühkindlichen Entwicklung. Bereits im Mutterleib lösen sie die ersten Bewegungen des Embryos aus, unterstützen das Wachstum, die Muskel- und Nervenentwicklung, den Aufrichtungsprozess und Vieles mehr.

In den ersten drei Lebensjahren werden Reflexbewegungen zunehmend durch Willkürmotorik abgelöst ([1], S. 17). Geschieht dieser Ablöseprozess nicht oder nur unvollständig, bleiben reflexartige Restmuskelbewegungen aktiv. Dies kann zu Entwicklungsverzögerungen führen. Lern- und Verhaltensprobleme sind mögliche Folgen ([1], S. 20). Es stellte sich die Frage, ob und inwieweit Restreaktionen frühkindlicher Reflexe auch als mögliche Ursache von Sprachentwicklungsstörungen gelten (o.ä.).

Material und Methoden

Mittels Literaturrecherche in den Fachdisziplinen Neuropsychologie, Entwicklungspsychologie, Psychiatrie, Pädiatrie, Sprachtherapie/Logopädie, Psychomotorik und Motologie wurde für eine Übersichtsarbeit zu den Suchbegriffen „Persistierende frühkindliche Reflexe“, „Reflexintegrationsprogramm“, „Sprachentwicklung“, „Sprachentwicklungsstörungen“, „Vorausläuferfähigkeiten“, „Wahrnehmung“, „Bewegung“, „Aufmerksamkeit“ und „Lernen“ die folgende Fragestellung bearbeitet:

Wie wirken sich Restreaktionen frühkindlicher Reflexe auf die Sprachentwicklung und deren Vorausläuferfähigkeiten aus?

Ergebnisse

Prä-, peri und postnatal auftretende Einflussfaktoren, wie Nährstoff- und Bewegungsmangel während der Schwangerschaft, Sauerstoffmangel unter der Geburt, Unfälle und Erkrankungen im frühen Kindesalter, stören nicht nur die kindliche Entwicklung, sondern können auch Restreaktionen frühkindlicher Reflexe zurücklassen ([1], S. 122).

Diese Restreaktionen wirken sich negativ auf viele Lebensbereiche, z. B. das Lernvermögen und die Konzentrationsfähigkeit aus und können sowohl das Kindesalter betreffen als auch bis ins Erwachsenenalter reichen. Dabei spielen Anzahl und Stärke der Restreaktionen eine maßgebliche Rolle. Sehr oft sind bspw. Sensorik und Motorik von Beeinträchtigungen betroffen ([2], S. 18). Dies führt nicht selten zu Schwächen in der Grob- und Feinmotorik, motorischen Koordinationsproblemen und Wahrnehmungsstörungen. Restreaktionen des Asymmetrischen Tonischen Nackenreflexes können beispielsweise das Krabbeln stören oder verhindern ([3], S. 14). Das Ausbleiben des Krabbelns kann sich auf die bilaterale Koordination auswirken und das Gleichgewichtsgefühl sowie die räumliche Wahrnehmung beeinflussen.

Restreaktionen können aber auch die Sprachentwicklung beeinträchtigen. Dabei zeigt sich, dass die Restreaktionen bestimmter frühkindlicher Reflexe auf mehreren unterschiedlichen Sprachentwicklungsebenen Auswirkungen haben können: Dazu zählen bspw. Furcht-Lähmungs-Reflex, Moro-Reflex, Tonischer Labyrinth-Reflex, Asymmetrisch Tonischer Nackenreflex und Saug- und Suchreflex. Ein persistierender Saug- und Suchreflex löst auf spezifische Reize ein Saugen aus, das Gesichts-, Lippen- und Zungenverspannungen zur Folge hat und z. B. das Sprechen (Artikulation, Myofunktion) im Kindes- wie auch im Erwachsenenalter beeinflusst ([2], S. 11). Bleiben Restreaktionen des Tonischen Labyrinth-Reflexes zurück, so kann eine muskuläre Hypo- oder Hypertonie die Folge sein und Einfluss auf die Stimmproduktion nehmen ([3], S. 14).

Diskussion

Restreaktionen von frühkindlichen Reflexen sollten in die multifaktorielle Ursachenbetrachtung von Sprachentwicklungsstörungen aufgenommen werden. Einen Beitrag hierzu können Studien zum Zusammenhang von persistierenden frühkindlichen Reflexen und Sprachentwicklungssymptomen wie auch zur Wirksamkeit von Reflexintegrationsprogrammen in Verbindung mit sprachlichen Verbesserungen leisten.

Fazit

Eine multifaktorielle Ursachenrecherche von Sprachentwicklungsstörungen, welche das Vorhandensein von Restreaktionen frühkindlicher Reflexe mitberücksichtigt, ermöglicht ein frühzeitiges Aufdecken von Entwicklungsbeeinträchtigungen und ebnet den Weg für eine frühzeitige spezifische Intervention, um Sprachenwicklungsstörungen vorzubeugen.


Literatur

1.
Sieber C, Queißer C. Wieder im Gleichgewicht. Der bedeutende Einfluss frühkindlicher Reflexe auf das Gehirn unserer Kinder. 3. Aufl. Kösel-Verlag; 2021.
2.
Graumann-Brunt S. Störungen der Lautsprachproduktion durch Restreaktionen frühkindlicher Reflexe. mitSprache - Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik. 2014;46(1):7–24.
3.
Hörmann H. Frühkindliche Reflexe und Sprache. mitSprache - Fachzeitschrift für Sprachheilpädagogik. 2014;46(2):5–20.
4.
Goddard Blythe S. Neuromotorische Unreife bei Kindern und Erwachsenen. Der INPP Screening-Test für Ärzte. Hogrefe Verlag; 2016.
5.
Graumann-Brunt S. Logopädie. In: Möckel E, Mitha N, Hrsg. Handbuch der pädiatrischen Osteopathie. 2. Aufl. Elsevier GmbH; 2009. S. 477–491.
6.
Liem T. Auswirkungen persistierender Reflexe auf die auditorische und visuelle Wahrnehmung. DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie. 2009;7(1):20–24. DOI: 10.1055/s-0029-1202316 Externer Link
7.
Matuszkiewicz M, Gałkowski T. Developmental Language Disorder and Uninhibited Primitive Reflexes in Young Children. Journal of speech, language, and hearing research: JSLHR. 2021;64(3):935–948. DOI: 10.1044/2020_JSLHR-19-00423 Externer Link