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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Wirksamkeit stationärer Langzeittherapie mit verhaltenstherapeutischem Konzept bei Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus

Poster

  • author presenting/speaker Leonie Mercedes Aurelia Leusch - Unimedizin Mainz, SP Kommunikationsstörungen, HNO-Klinik, Mainz, Deutschland
  • author Belinda Fuchs - Gesundheitszentrum Glantal, Abteilung Sprachheilzentrum Meisenheim, Meisenheim, Deutschland
  • author Maik Herrmann - Klinik Viktoriastift, Abteilung Sprachheiltherapie, Bad Kreuznach, Bad Kreuznach, Deutschland
  • corresponding author Anne K. Läßig - Unimedizin Mainz, SP Kommunikationsstörungen, HNO-Klinik, Mainz, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocP2

doi: 10.3205/23dgpp06, urn:nbn:de:0183-23dgpp066

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Leusch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Selektiver Mutismus (SM, F94.0) ist eine Kommunikationsstörung, die bei etwa 2-8 pro 10.000 Kindern auftritt (Steinhausen et al.). Die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, tritt mit einer Prävalenz von 0,7-1 % (C. Schwenck et al.) eher selten bei Kindern auf. In der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD10) wird der selektive Mutismus den Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend zugeordnet, seit 2019 im neuen ICD11-Katalog zu den eigenständigen Angststörungen.

Material und Methoden: Eine retrospektive, unizentrische Datenerhebung von 176 Kindern mit SM des Sprachheilzentrums Meisenheim aus dem Zeitraum 2006 bis einschließlich 2020 analysiert den Therapieverlauf und den Abbau von krankheitsbezogenen Symptomen.

Ergebnisse: Das Sprachheilzentrum Meisenheim bietet eine stationäre Langzeittherapie mit eigenem ressourcenorientiertem, verhaltenstherapeutischem Konzept zur Behandlung des SM bis zum Alter von 19 Jahren an.

Die durchschnittliche Therapiedauer lag bei 9,63 Monaten, wobei 25,3 % die Therapie vorzeitig abbrachen. Die mittlere Therapiedauer lag regulär bei 10,86, also fast 11 Monaten. 10 Merkmale wurden jeweils zu Therapiebeginn/-ende für den Schweregrad des SM erfasst, um die Alltagseinschränkungen als auch den Therapieeffekt abzubilden, unter anderem die verbalen, sowie nonverbalen kommunikativen Fähigkeiten in definierten Alltagssituationen, als auch der Gebrauch von Mimik, Gestik und Schriftsprache und die Fähigkeit „Blickkontakt halten“ zu können, ebenso wie das Vorliegen von Freezing-Symptomatik und die Fähigkeit „Aufforderungen nachzukommen“. Zu Therapiebeginn waren 37,3 % der Kinder und Jugendlichen mit SM schwergradig, 54,4 % mittelgradig und nur 8,2 % geringgradig betroffen. Zu Therapieende zeigten noch 5,1 % eine schwergradige, 13,9 % eine mittelgradige, 15,8 % eine geringgradige Ausprägung und Zweidrittel (65,2 %, n = 103) keine Einschränkungen i.S. eines SM mehr. Beim Vergleich der Punktwerte von Beginn zu Therapieende zeigte sich eine signifikante Symptomreduktion, ebenso bei den Therapieabbrecher*innen. Signifikante Faktoren, die den Therapieverlauf negativ beeinflussen, waren häufige Therapieunterbrechungen und vermehrt oppositionellem Verhalten des Betroffenen.

Fazit: Die stationäre Langzeittherapie mit verhaltenstherapeutischem Konzept stellt eine gute Behandlungsmöglichkeit bei selektivem Mutismus im Kindes- und Jugendalter dar, insbesondere wenn vorherige ambulante Therapieansätze scheiterten und ein Schulversagen droht.


Text

Einleitung

Selektiver Mutismus (F94.0) ist eine Kommunikationsstörung, die sich durch emotional bedingtes Schweigen in bestimmten Situationen klinisch manifestiert. Betroffene können in einigen sozialen Situationen nicht sprechen, obwohl bei ihnen grundsätzlich die Fähigkeit zu Sprachproduktion, sowie Sprachverständnis gegeben ist [1]. Die Erkrankung ist mit einer Prävalenz von 0,7-1 % eine eher seltene kindliche Störung [1], [2]. In der aktuell noch gültigen Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD10) wird der selektive Mutismus den Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend zugeordnet. Seit 2019 gehört dieses Krankheitsbild im neuen ICD11-Katalog zu den eigenständigen Angststörungen.

Material und Methoden

Es erfolgte eine retrospektive unizentrische Datenanalyse von 176 selektiv mutistischen Kindern des Sprachheilzentrums Meisenheim mit Auswertung von Therapieverläufen aus dem Zeitraum 2006 bis einschließlich 2020. Dabei wurden u.a. die erhobenen Daten zum Therapieverlauf und dem Abbau von krankheitsbezogenen Symptomen analysiert.

Da es kein standardisiertes System zur Erfassung des Schweregrads von selektivem Mutismus gibt, wurde ein Konzept zur Erfassung des Schweregrades des selektiven Mutismus entwickelt. Dieses beinhaltet 10 Merkmale, die jeweils zu Therapiebeginn und Therapieende evaluiert wurden, die die Alltagseinschränkungen und somit die Ausprägung des selektiven Mutismus wie auch den Therapieeffekt abbilden sollen.

Zu den erfassten Merkmalen gehören unter anderem verbale sowie nonverbale kommunikative Fähigkeiten in definierten Alltagssituationen wie in der Schule, mit Fremden oder im Sprachheilzentrum, als auch der Gebrauch von Mimik, Gestik und Schriftsprache und die Fähigkeit Blickkontakt halten zu können. Des Weiteren wurde das Vorliegen von Freezing-Symptomatik und die Fähigkeit Aufforderungen nachzukommen erfasst. Es erfolgte eine Einteilung in ein 10 Punktesystem. Bei Vorliegen von 10 Punkten liegen keine Mutismus-typischen Symptome mehr vor. Bei 8 oder 9 Punkte besteht eine geringgradige Ausprägung, bei 5-7 Punkten eine mittelgradige Ausprägung und bei 0-4 Punkten eine schwergradige Ausprägung.

Ergebnisse

Das Sprachheilzentrum Meisenheim bietet eine stationäre Langzeittherapie mit eigenem ressourcenorientiertem, verhaltenstherapeutischem Konzept, mit Anteilen der kooperativen Mutismustherapie und Anteilen der Dortmunder Mutismustherapie, zur Behandlung des selektiven Mutismus bei Kindern und Jugendlichen, an.

Die durchschnittliche Therapiedauer lag bei 9,63 Monaten, wobei 25,3 % die Therapie vorzeitig abbrachen. Die mittlere Therapiedauer bei regulärer Beendigung der Therapie lag bei 10,86, also fast 11 Monaten. Zu Therapiebeginn waren 37,3 % der Kinder und Jugendlichen mit selektivem Mutismus schwergradig betroffen, 54,4 % mittelgradig und nur 8,2 % geringgradig betroffen. Zu Therapieende zeigten nur noch 5,1 % der Kinder und Jugendlichen eine schwergradige Ausprägung, 13,9 % waren nach wie vor mittelgradig betroffen, 15,8% zeigten eine geringgradige Ausprägung und ein Großteil (65,2 %, n = 103) zeigten zu Therapieende keine Mutismus-typischen Einschränkungen mehr.

Beim Vergleich der durchschnittlich erreichten Punktwerte von Therapiebeginn (5,05 Punkte) zu Therapieende (8,97 Punkte) zeigte sich eine signifikante Symptomreduktion von 3,918 Punkten im Therapieverlauf (SD = 2,05, 95 % KI: 4,24-3,59 Punkte, p < 0,001).

Diese Angaben schließen auch die 25 % Betroffenen mit ein, die die Therapie vorzeitig abbrachen. Eine differenzierte Betrachtung zeigt, dass auch die Therapieabbrecher*innen von der Therapie profitieren. Von denen, die die Therapie regelrecht absolvierten, hatten 87,3 % keine Mutismus-typischen Symptome mehr, 9,3 % waren geringgradig betroffen und 3,35 % waren mittelgradig oder hochgradig betroffen.

Bei der Einzelbetrachtung der Merkmale zeigte sich bei 9 der 10 Merkmale eine signifikante Symptomreduktion (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Des Weiteren konnten Faktoren identifiziert werden, die den Therapieverlauf negativ beeinflussen. Einen signifikant negativen Einfluss auf den Therapieerfolg konnte bei häufigen Therapieunterbrechungen, als auch bei vermehrt oppositionellem Verhalten des Betroffenen, nachgewiesen werden.

Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass ein Großteil der betroffenen Kinder und Jugendlichen in Ihren Alltagsfunktionen stark eingeschränkt sind und sich der selektive Mutismus nicht nur auf den verbalen Sprachgebrauch bezieht, sondern von einer erheblichen Sekundärsymptomatik begleitet wird, die weitere Kommunikationskanäle einschränkt.

Auf Grund des Unvermögens mit Fremden als auch im schulischen Bereich zu sprechen, ist die Perspektive auf einen Schulabschluss und eine Erwerbsfähigkeit deutlich gefährdet.

Die deutsche Leitlinie für selektiven Mutismus empfiehlt eine verhaltensorientierte Psychotherapie, die nicht weiter eingegrenzt wird [1]. Eine eindeutige disziplinäre Zuordnung wird nicht angeben. Expert*innen empfehlen für den selektiven Mutismus eine spezifische Behandlung von einer spezialisierten Einrichtung [3]. Verdeutlicht wird dies durch die eingeschränkte Kommunikation im therapeutischen Setting zu Beginn der Therapie.

Lang et al. geben den Behandlungserflog bei verhaltenstherapeutischen Konzepten mit 84 % an, andere Metaanalysen kommen zu einer kompletten Remission oder massiven Verbesserung der Symptome von 74 % [4], [5].

Die Ergebnisse zeigen, dass das leitliniengerechte, ressourcenorientierte, verhaltenstherapeutische Konzept sich als eine wirksame Therapieoption zur Reduktion der Mutismus-typischen Symptome erwiesen hat.

Fazit

Die Ergebnisse verdeutlichen die Einschränkungen der Alltagsfunktionen und Teilhabe und betonen, dass Betroffene von einer frühzeitigen, leitliniengerechten und spezifischen Therapie in spezialisierten Einrichtungen wirksam profitieren.


Literatur

1.
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, et al, Hrsg. Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzteverlag; 2007. Elektiver Mutismus. S. 303-10.
2.
Cohan SL, Chavira DA, Shipon-Blum E, Hitchcock C, Roesch SC, Stein MB. Refining the classification of children with selective mutism: a latent profile analysis. J Clin Child Adolesc Psychol. 2008;37(4):770-84.
3.
Subellok K, Starke A. Selektiver Mutismus: Ein interdisziplinäres Phänomen. Deutsches Ärzteblatt. 2015;13(10):455-6.
4.
Siebke Melfsen SW. Behandlungsmethoden des selektiven Mutismus. Sprache Stimme Gehör. 2017;(41):91-4.
5.
Lang C, Nir Z, Gothelf A, Domachevsky S, Ginton L, Kushnir J, Gothelf D. The outcome of children with selective mutism following cognitive behavioral intervention: a follow-up study. Eur J Pediatr. 2016;175(4):481-7.