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39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28.09. - 01.10.2023, Köln

Die interdisziplinäre S3-Leitlinie zur Therapie von Sprachentwicklungsstörungen – das Wichtigste in Kürze

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Katrin Neumann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland
  • author Philipp Mathmann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland
  • author Karen Reichmuth - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland
  • author Corinna Gietmann - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland
  • author Harald A. Euler - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland
  • author Christina Kauschke - Institut für Germanistische Sprachwissenschaft, AG Klinische Linguistik, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland
  • author Carina Lüke - Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik, Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland
  • author Annette Fox-Boyer - Institut für Gesundheitswissenschaften, Fachbereich Logopädie, Universität zu Lübeck, Lübeck, Deutschland
  • author Stephan Sallat - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Philosophische Fakultät III – Erziehungswissenschaften, Institut für Rehabilitationspädagogik, Pädagogik bei Sprach- und Kommunikationsstörungen, Halle, Deutschland
  • author Natalja Bolotina - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, plastische Operationen, Klinikum Dortmund gGMBH, Dortmund, Deutschland
  • author Christiane Kiese-Himmel - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland

39. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Köln, 28.09.-01.10.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocV-LL1

doi: 10.3205/23dgpp04, urn:nbn:de:0183-23dgpp043

Veröffentlicht: 20. September 2023

© 2023 Neumann et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Sprachentwicklungsstörungen (SES) gehören zu den häufigsten und am häufigsten behandelten Störungen im Kindesalter und wirken sich bis ins Jugend- und Erwachsenenalter negativ auf den Bildungserfolg und den sozialen Status aus. Ihre Prävalenz beträgt etwa 9,9 %. Die Mehrheit der Kinder mit SES hat keine weiteren gravierenden sprachrelevanten Störungen (Prävalenz ca. 7,4-7,6 %), ca. 2,3 % haben zusätzliche Beeinträchtigungen, die zu einer SES beitragen können, wie Hörstörungen oder neurologische Entwicklungsstörungen. Phonologische Aussprachestörungen, die einen Teil der SES bilden, sind oft mit späteren Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten verbunden.

Material und Methoden: Aus diesen Gründen und vor allem, um evidenzbasierte Empfehlungen für wirksame Interventionen bei SES abzugeben, die dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand Rechnung tragen, wurde eine S3-Leitlinie dazu erstellt. Sie basiert auf einem systematischen Review zur Wirksamkeit von Interventionen für SES insgesamt, für die einzelnen linguistischen Domänen und für das Late-Talker-Risikostadium für SES.

Ergebnisse: Die Leitlinie empfiehlt
(a) bei Late Talkers (Alter 24-36 Monate) bei expressiver Sprachverzögerung strukturiertes Elterntraining, bei zusätzlicher rezeptiver Sprachverzögerung oder anderen Risikofaktoren Sprachtherapie,
(b) bei phonologischen Aussprachestörungen phonologische oder integrierte Behandlungsmethoden; bei phonetischen Störungen einen traditionellen motorischen Ansatz,
(c) bei lexikalisch-semantischen und d) morphologisch-syntaktischen Störungen eine Kombination aus impliziten und expliziten Methoden (Inputanreicherung, Modellierungstechniken, Elizitationsmethoden zur Schaffung von Produktionsgelegenheiten, Einsatz von Metasprache und Visualisierungen).

Zudem werden Interventionsprinzipien und -methoden für pragmatische SES und für SES bei mehrsprachigen Kindern, für die stationäre Sprachrehabilitation und für SES im Zusammenhang mit Hörstörungen, geistiger Behinderung, Autismus-Spektrum-Störungen, selektivem Mutismus sowie sprachrelevanten Syndromen und Mehrfachbehinderungen empfohlen.

Diskussion: Die Leitlinie impliziert auch pädagogische Aspekte und soll eine hochwertige Therapieforschung anregen, die die Einbeziehung der Eltern, das Therapiesetting und die Dosierung (Häufigkeit, Dauer, Inhaltsmodule pro Therapiesitzung) berücksichtigt.

Fazit: Die Leitlinie bietet eine klare, empirisch fundierte Anleitung für wirksame Interventionen bei SES.


Text

Hintergrund

Sprachentwicklungsstörungen (SES) gehören zu den häufigsten und am häufigsten behandelten Störungen im Kindesalter und wirken sich bis ins Jugend- und Erwachsenenalter negativ auf den Bildungserfolg und den sozialen Status aus. Ihre Prävalenz liegt bei etwa 9,9 % [1]. Schwere Formen betreffen ca. 1 % der Kinder. Bei der Mehrzahl der SES, mit Prävalenzangaben um 7,4-7,6 %, finden sich keine zusätzlichen gravierenden sprachrelevanten Störungen [1]; sie wurden daher bislang entsprechend der ICD-10 als umschriebene Sprachentwicklungsstörungen (USES) bezeichnet und werden, da sie entsprechend der ICD-11 künftig lediglich SES genannt werden, in der hier vorgestellten Leitlinie übergangsweise mit (U)SES bezeichnet. Bei weiteren ca. 2,3 % der Kinder liegen weitere sprachrelevante Störungen (Komorbiditäten) vor, die auch mitverursachend für die Sprachentwicklungsstörung sein können, wie Hörstörungen, Autismus-Spektrum-Störungen, neurologische Störungen oder geistige Behinderungen [1]. Sie werden als SES „assoziiert mit…“ oder „bei…“ (Komorbidität) bezeichnet (Lüke et al., manuscript submitted). Insbesondere stellen phonologische Aussprachestörungen, die zu den SES zählen, die häufigsten Kommunikationsstörungen bei Vorschulkindern dar und sind im Schulalter oft mit Lese- und Recht-schreibschwächen oder -störungen verbunden.

SES stellen ein Langzeitproblem für die Betroffenen dar. Etwa 40-80 % der Kinder, die im Vorschulalter mit einer (U)SES diagnostiziert wurden, haben auch 4-5 Jahre später noch Restsymptome. 40-75 % der Kinder mit (U)SES haben später Probleme im Schriftspracherwerb. Restdefekte bei behandelten und unbehandelten (U)SES wurden auch Jahrzehnte nach Erstdiagnose nachgewiesen. Es handelt sich somit um ein relevantes, langzeitig wirksames Problem, das sich entsprechend dem modernen Krankheitsverständnis der WHO und ihrer Classification of Functioning, Disability, and Health for Children and Youth (ICF-CY), häufig nachhaltig auf die Lebensaktivität und soziale Teilhabe der Betroffenen auswirkt.

In Deutschland sucht die Sprachentwicklungsforschung Anschluss an internationale Standards. Noch herrschen Einzelfallstudien oder Studien mit kleinem Stichprobenumfang und qualitative Analysen vor, und unter den hochwertigen, in Fachzeitschriften publizierten RCTs und dazugehörigen Follow-up-Untersuchungen, die zur Evidenzfindung des systematischen Reviews dieser Leitlinie als beitragsfähig identifiziert wurden, fanden sich nur fünf deutsche RCTs aus insgesamt drei Arbeitsgruppen. Auch werden in Deutschland internationale Standards nur schleppend umgesetzt. So werden als hocheffektiv angesehene Elterntrainings und Online-Therapien nicht regelhaft von Krankenkassen als erstattungsfähig anerkannt, Kleingruppentherapien finden in der ambulanten Sprachtherapie kaum statt und Frühtherapien bei Sprachentwicklungsverzögerungen oder (U)SES sind eher die Ausnahme als die Regel. Das Gros an Sprachtherapien bei Kindern findet bei Fünf- bis Neujährigen statt ([2], siehe dort Abbildung 28), einem Alter, in dem der grundlegende Spracherwerb bereits abgeschlossen ist. Zu Therapiesettings und -dosis beginnt eine systematische Forschung erst derzeit.

Material und Methoden

Aus diesen Gründen und vor allem, um evidenzbasierte Empfehlungen für wirksame Interventionen bei SES abzugeben, die dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand Rechnung tragen, wurde eine S3-Leitlinie dazu erstellt [3]. Sie basiert auf einem systematischen Review zur Wirksamkeit von Interventionen für SES insgesamt, für die einzelnen linguistischen Domänen und für Sprachentwicklungsverzögerungen (Late-Talkers) als Risikostadium für SES.

Ergebnisse

Die Leitlinie empfiehlt (a) bei Late Talkers (Alter 24-36 Monate) bei expressiver Sprachverzögerung strukturiertes Elterntraining, bei zusätzlicher rezeptiver Sprachverzögerung oder anderen Risikofaktoren Sprachtherapie (b) bei phonologischen Aussprachestörungen phonologische oder integrierte Behandlungsmethoden; bei phonetischen Störungen einen traditionellen motorischen Ansatz (c) bei lexikalisch-semantischen und d) morphologisch-syntaktischen Störungen eine Kombination aus impliziten und expliziten Methoden (Inputanreicherung, Modellierungstechniken, Elizitationsmethoden zur Schaffung von Produktionsgelegenheiten, Einsatz von Metasprache und Visualisierungen). Zudem werden Interventionsprinzipien und -methoden für pragmatische SES und für SES bei mehrsprachigen Kindern, für die stationäre Sprachrehabilitation und für SES im Zusammenhang mit Hörstörungen, geistiger Behinderung, Autismus-Spektrum-Störungen, selektivem Mutismus sowie sprachrelevanten Syndromen und Mehrfachbehinderungen empfohlen, weiterhin für eine gezielte stationäre Sprachrehabilitation.

Diskussion

Die Leitlinie impliziert auch pädagogische Aspekte und soll eine hochwertige Therapieforschung anregen, die die Einbeziehung der Eltern, das Therapiesetting und die Dosierung (Häufigkeit, Dauer, Inhaltsmodule pro Therapiesitzung) berücksichtigt.

Fazit

Die evidenzbasierte S3-Leitlinie zu Therapien bei SES bietet eine klare, empirisch fundierte Anleitung für wirksame Sprachtherapien. Insbesondere Frühinterventionen sowie eine Kombination elternzentrierter, therapeutischer und pädagogisch-sprachfördernder Maßnahmen können die Interventionseffektivität bei Sprachentwicklungsverzögerungen und -störungen verbessern.


Literatur

1.
Norbury CF, Gooch D, Wray C, Baird G, Charman T, Simonoff E, Vamvakas G, Pickles A. The impact of nonverbal ability on prevalence and clinical presentation of language disorder: evidence from a population study. J Child Psychol Psychiatry. 2016;57(11):1247-57. DOI: 10.1111/jcpp.12573 Externer Link
2.
Waltersbacher A. Heilmittelbericht 2019: Ergotherapie, Sprachtherapie, Physiotherapie, Podologie. Berlin: WIdO - Wissenschaftliches Institut der AOK; 2019. Verfügbar unter: https://www.wido.de/fileadmin/Dateien/Dokumente/Publikationen_Produkte/Buchreihen/Heilmittelbericht/wido_hei_hmb_2019.pdf Externer Link
3.
Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), et al. Interdisziplinäre S3-Leitlinie. Version 1.1. AWMF-Registernr. 049-015. 2022. Verfügbar unter: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/049-015 Externer Link