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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

29.09. - 02.10.2022, Leipzig

Kinderschutz – ein Thema für die Sprachtherapie? Kindliche Sprachentwicklung im Kontext von Gewalt und Vernachlässigung

Poster

  • author presenting/speaker Marie Seeliger - Abt. Sprechwissenshaft und Phonetik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland
  • author Stephanie Kurtenbach - Abt. Sprechwissenshaft und Phonetik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland
  • corresponding author Susanne Voigt-Zimmermann - Abt. Sprechwissenshaft und Phonetik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland
  • author Hans Leitner - Start gGmbH, Henningsdorf, Deutschland

38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 29.09.-02.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocP8

doi: 10.3205/22dgpp29, urn:nbn:de:0183-22dgpp294

Veröffentlicht: 26. September 2022

© 2022 Seeliger et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Sprachtherapeut*innen haben nicht nur einen therapeutischen Behandlungsauftrag, sie unterliegen ebenso berufsethischen und gesetzlichen Verpflichtungen zum Schutz von Kindern. Diese Aspekte stellen einerseits eine Chance für den Kinderschutz dar, sorgen andererseits aber auch für große Herausforderungen. Das Thema Kinderschutz findet in der Lehre von Sprachtherapeut*innen bisher keine Beachtung. Um dem Schutzauftrag jedoch gerecht werden zu können, ist eine fachspezifische Auseinandersetzung unabdingbar.

Material und Methoden: Auf der Basis eines systematischen Reviews wurden Erkenntnisse zur kindlichen Sprachentwicklung im Kontext von Gewalt und Vernachlässigung zusammengetragen. In einem nächsten Schritt wurden die gesammelten Daten als Grundlage für die Entwicklung eines Beobachtungsbogens für Sprachtherapeut*innen im Kinderschutzfall (BeoKiwo) aufbereitet. Für das systematische Review wurden Sprachstandserhebungen recherchiert, deren Pro-band*innen Gewalt und/oder Vernachlässigung erlebt haben und zum Untersuchungszeitpunkt nicht älter als 6,0 Jahre alt waren. Weitere Auswahlkriterien der Studien waren: Repräsentativität der untersuchten Stichproben, Validität, Reliabilität und Transparenz im methodischen Vorgehen.

Ergebnisse: Die Folgen von Gewalt und Vernachlässigung auf den kindlichen Spracherwerb zeigen sich an Verzögerungen in allen Sprachentwicklungsbereichen. Eine über einen längeren Zeitraum anhaltende Vernachlässigung verursacht die größten Schäden im pragmatischen Bereich. Außerdem sind das Alter des Kindes zum Zeitpunkt der Gefährdung sowie die Dauer der Gewalt- und Vernachlässigungsperioden entscheidende Variablen für die Auswirkungen auf die Sprachentwicklung.

Diskussion: Gewalt und Vernachlässigung in entscheidenden Entwicklungsfenstern können schädliche und dauerhafte Auswirkungen auf Bedingungsfaktoren für den Spracherwerb haben: Auf Seiten der Umwelt sind dabei die häufig desorganisierte Eltern-Kind-Bindung sowie ein mangelhaftes Kommunikations- und Sprachangebot für die Kinder gewichtig. Auf Seiten des Kindes können traumatische Geschehnisse psychobiologische Prozesse auslösen. Diese können zu Veränderungen in der allgemeinen Gehirnentwicklung und der Organisation des verbalen Gedächtnisses führen.

Fazit: Gewalt und Vernachlässigung können zu klinisch und therapeutisch bedeutsamen Verzögerungen und Störungen in der kindlichen Sprachentwicklung führen. Die betroffenen Kinder bedürfen sprachtherapeutischer Behandlung.

Der Beobachtungsbogen BeoKiwo hilft Sprachtherapeut*innen ihre Wahrnehmung hinsichtlich des Kinderschutzes zu sensibilisieren und Kindeswohlgefährdung aufzudecken.


Text

Hintergrund

Sprachtherapeut*innen unterliegen neben dem therapeutischen Behandlungsauftrag auch berufsethischen und gesetzlichen Verpflichtungen zum Schutz von Kindern gemäß § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). Diese Aspekte stellen einerseits eine Chance dar, Kindern und Eltern frühzeitig zu helfen, sorgen andererseits aber auch für große Herausforderungen. Um von sprachtherapeutischer Seite dem Schutzauftrag besser gerecht werden zu können, ist eine Thematisierung und fachspezifische Auseinandersetzung unabdingbar.

Material und Methoden

Mittels systematischem Review wurden Erkenntnisse zur kindlichen Sprachentwicklung von Kindern (≤ 6,0 Jahren) zusammengetragen, die Formen der Gewalt und/oder Vernachlässigung erlebt hatten. In einem nächsten Schritt wurden die gesammelten Daten als Grundlage für die Entwicklung eines Beobachtungsbogens bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung für Sprachtherapeut*innen (BeoKiwo) aufbereitet. Ein maßgeblicher Referenzpunkt sind die Empfehlungen zu relevanten Aspekten und Kriterien im Kinderschutzfall des Deutschen Jugendinstituts [1].

Ergebnisse

Folgen von Gewalt und Vernachlässigung auf den kindlichen Spracherwerb zeigen sich an Verzögerungen in allen Sprachentwicklungsbereichen [2], [3], [4], [5]. Eine über einen längeren Zeitraum anhaltende Vernachlässigung verursacht die größten Sprachentwicklungsschäden im pragmatischen Bereich [6]. Das Alter des Kindes zum Zeitpunkt der Gefährdung sowie die Dauer der Gewalt- und Vernachlässigungsperioden sind maßgeblich für die Auswirkungen auf die Sprachentwicklung [7].

Diskussion

Eine Erklärung für die genannten Sprachentwicklungsverzögerungen bieten die negativen Auswirkungen von Gewalt und Vernachlässigung auf spezifische Bedingungsfaktoren des kindlichen Spracherwerbs. Auf Seiten der Umwelt sind dabei die Eltern-Kind-Bindung sowie das Kommunikations- und Sprachangebot, auf Seiten des Kindes die allgemeine Gehirn- und Gedächtnisentwicklung gewichtig. Desorganisierte Eltern-Kind-Bindungen gehen häufig mit widersprüchlichen elterlichen Reaktionen und Antworten auf kindliche Signale einher [8], [9], [10]. Das Kind erfährt nicht die nötige emotionale Sicherheit, um von der stabilen Basis der Eltern-Kind-Bindung aus die nächsten allgemeinen und sprachlichen Entwicklungsschritte und Erkundungen zu wagen [11]. Physisch misshandelnde und vernachlässigende Eltern bieten ihren Kindern nur rund die Hälfte des sprachlichen Inputs nicht misshandelnder und nicht vernachlässigender Eltern an, kommunizieren in signifikant kürzeren und weniger komplexen Äußerungen, schaffen seltener wertschätzende sowie für das Kind anregende Interaktionen und ziehen sich häufiger aus verbalen Kommunikationssituationen zurück [4], [7]. Das Erleben traumatischer Geschehnisse kann zu veränderten psychobiologischen Prozessen im Gehirn des Kindes führen. Darunter leiden die allgemeine Gehirnentwicklung sowie die Organisation des verbalen Gedächtnisses [12], [13]. Kinder mit einer misshandlungs- oder vernachlässigungsbedingten posttraumatischen Belastungsstörung weisen eine Dysfunktion der sog. Stressachse auf. Der dadurch dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel schädigt den Hippocampus und wirkt sich somit negativ auf die Speicherung und Verarbeitung von Informationen aus [12].

Fazit/Schlussfolgerung

Gewalt und Vernachlässigung können zu empirisch belegbaren und somit klinisch sowie therapeutisch bedeutsamen Verzögerungen und Störungen in der kindlichen Sprachentwicklung führen. Behandler:innen von sprachentwicklungsverzögerten und -gestörten Kindern müssen um den möglichen Zusammenhang von Kindeswohlgefährdung und Sprachauffälligkeiten wissen, um Anzeichen auf eine Kindeswohlgefährdung wahrnehmen, einschätzen und benennen zu können. Der BeoKiwo sensibilisiert Fachkräfte und schult deren Wahrnehmung hinsichtlich der Sicherung des Kindeswohls, bzw. des Kinderschutzes und berücksichtigt hierbei neben Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung auch weitere Anhaltspunkte [14]. Er unterstützt damit Kindeswohlgefährdung im sprachtherapeutischen Kontext aufzudecken.


Literatur

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Di Sante M, Sylvestre A, Bouchard C, Leblond J. Parental behaviors associated with the level of pragmatic language ability among 42-month-old neglected children. Child Abuse Negl. 2020 Jun;104:104482. DOI: 10.1016/j.chiabu.2020.104482 Externer Link
7.
Sylvestre A, Bussières ÈL, Bouchard C. Language Problems Among Abused and Neglected Children: A Meta-Analytic Review. Child Maltreat. 2016 Feb;21(1):47-58. DOI: 10.1177/1077559515616703 Externer Link
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13.
De Bellis MD, Kuchibhatla M. Cerebellar volumes in pediatric maltreatment-related posttraumatic stress disorder. Biol Psychiatry. 2006 Oct;60(7):697-703. DOI: 10.1016/j.biopsych.2006.04.035 Externer Link
14.
Seeliger M. Kinderschutz im Kontext der Sprachtherapie: Entwicklung eines Handlungsleitfadens zur Unterstützung der Beobachtung möglicher Kindeswohlgefährdung [Masterarbeit]. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 2022.