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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

29.09. - 02.10.2022, Leipzig

Kinder und Jugendliche mit selektivem Mutismus unter ihren Möglichkeiten

Vortrag

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  • author Leonie M. Leusch - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen, HNO-Klinik, Unimedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Belinda Fuchs - Gesundheitszentrum Glantal; Abteilung Sprachheilzentrum, Meisenheim, Meisenheim, Deutschland
  • author Maik Herrmann - Klinik Viktoriastift; Abteilung Sprachheiltherapie, Haus Oswaldhöhe, Rheinhessen-Fachklinik Alzey, Alzey, Deutschland
  • corresponding author presenting/speaker Anne Katrin Läßig - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen, HNO-Klinik, Unimedizin Mainz, Mainz, Deutschland

38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 29.09.-02.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocV20

doi: 10.3205/22dgpp28, urn:nbn:de:0183-22dgpp289

Veröffentlicht: 26. September 2022

© 2022 Leusch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Selektiver Mutismus (F94.0) ist eine eher seltene Kommunikationsstörung mit der Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen (Prävalenz von 0,7–1%) und galt als Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Seit 2019 zählt das Krankheitsbild zu den eigenständigen Angststörungen (nach ICD-11).

Material und Methoden: In einer retrospektive unizentrische Datenanalyse von 176 mutistischen Kindern aus dem Zeitraum 2006 bis einschließlich 2020 wurden allgemeine Angaben zu Freizeit, familiären Umständen, frühkindlicher Entwicklung, Bildung und dem Therapieverlauf erfasst.

Ergebnisse: Beim selektiven Mutismus stellt der bildungsbezogene Bereich ein problembehaftetes Feld dar. Bei 41% der Patienten trat der selektive Mutismus vor allem in Assoziation mit leistungsbezogenen Entwicklungsschritten im schultypischen Alter ab 6 Jahren auf. Weniger als 7% konnten sich zu Therapiebeginn verbal in der Schule beteiligen. Die Verteilung der Beschulungsformen weicht stark vom bundesweiten Durschnitt ab. 18,4% der Kinder besuchten eine Grundschule. Unter den 129 Jugendlichen auf weiterführenden Schulen besuchten 17,05% ein Gymnasium, 18,6% eine Realschule und 7,75% eine Hauptschule. 14,73% wurden auf einer Gesamtschule unterrichtet. 41,86% alle Mutisten auf weiterführenden Schulen besuchen eine Einrichtung mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Gegensatz zum Bundesdurchschnitt von 7%. 48,15% aller Mutisten mit Förderbedarf besuchen eine Sprachheilschule. Trotz des hohen Anteiles an Kindern mit besonderer Unterstützung konnten 53,79% der Mutisten im Rahmen ihrer Störung nicht am Schulsport teilnehmen und 15,82% konnten gar nicht mehr beschult werden. Trotz des hohen Anteils an Mutisten auf Förderschulen zeigt die Auswertung der Intelligenztestungen eine normalverteilte Stichprobe mit durchschnittlicher bis überdurchschnittlicher Intelligenz.

Diskussion: Im Vergleich mit dem bundesweiten Durchschnitt werden Mutisten häufiger auf Förderschulen beschult und selektiver Mutismus kommt in jedem Intelligenzniveau vor. Die paradoxe Verteilung von IQ-Werten und Beschulungsformen deckt auf, wie sehr ein selektiver Mutismus kindliche Alltagsfunktionen einschränkt und den Bildungsweg beeinflusst.

Fazit: Eine frühzeitige und erfolgreiche Behandlung des selektiven Mutismus ist wichtig, damit sich Kinder und Jugendliche im Rahmen ihrer Intelligenz und Möglichkeiten entwickeln können.


Text

Einleitung

Selektiver Mutismus (F94.0) ist eine Kommunikationsstörung, die sich durch emotional bedingtes Schweigen in bestimmten Situationen klinisch manifestiert. Betroffene können in einigen sozialen Situationen nicht sprechen, obwohl bei ihnen grundsätzlich die Fähigkeit zur Sprachproduktion, sowie Sprachverständnis gegeben ist [1]. Die Erkrankung ist mit einer Prävalenz von 0,7–1% eine eher seltene kindliche Störung [1], [2]. In der aktuell noch gültigen Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD10) wird der selektive Mutismus den Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend zugeordnet. Seit 2019 gehört dieses Krankheitsbild im neuen ICD11-Katalog zu den eigenständigen Angststörungen.

Material und Methoden

Es erfolgte eine retrospektive unizentrische Datenanalyse von 176 mutistischen Kindern des Sprachheilzentrums Meisenheim mit Auswertung von Therapieverläufen aus dem Zeitraum 2006 bis einschließlich 2020. Dabei wurden allgemeine Angaben zu Freizeit, familiären Umständen, frühkindlicher Entwicklung, Bildung und dem Therapieverlauf erfasst. Im Folgenden werden die erhobenen Daten zur Erhebung der Intelligenz in Bezug zur Beschulungsform thematisiert.

Ergebnisse

Beim selektiven Mutismus (SM) stellt der bildungsbezogene Bereich ein problembehaftetes Feld dar. Bei insgesamt 41% der Patient*innen trat der SM vor allem in Assoziation mit leistungsbezogenen Entwicklungsschritten im schultypischen Alter ab 6 Jahren auf. 45,6% aller Kinder wurden mit dem Eintritt in den Kindergarten symptomatisch, bei einem Drittel (31%) setzten die ersten Auffälligkeiten im Rahmen der Einschulung in die Grundschule ein. Bei 9,5% lässt sich der Beginn des SM mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule in einen zeitlichen Zusammenhang bringen. Hartmann vermutete bereits, dass der SM durch einen Übergang in ein neues soziales Umfeld ausgelöst wird, und Katz-Bernstein stellte die Überforderungstheorie auf [3], [4].

Die Verteilung der Beschulungsformen weicht stark vom bundesweiten Durchschnitt ab (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

18,4% der Kinder besuchten zum Aufnahmezeitpunkt eine Grundschule. Unter den 129 Jugendlichen auf weiterführenden Schulen besuchten 17,05% der Schüler*innen das Gymnasium, was deutlich unter dem deutschlandweiten Durchschnitt von 34% aller Schüler*innen ab Sekundarstufe eins liegt. Der Anteil Realschüler (18,6%) und Hauptschüler (7,75%) weicht weniger stark vom Bundesdurchschnitt von 21% und 10% ab, liegt aber dennoch darunter. Der Anteil der Jugendlichen auf Gesamtschulen lag in dieser Studie bei 14,73% und damit ebenfalls unter den erwarteten 18% [5]. Ursächlich für die Abweichung der Beschulungsformen in dieser Studie war der große Anteil von Kindern und Jugendlichen auf Förderschulen. 41,86% aller Mutist*innen, die im Sprachheilzentrums Meisenheim wegen eines SM behandelt wurden, lernten an Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Der bundesweite Durchschnitt beträgt nur 7% aller Kinder, wobei hiervon 4% eine Förderschule besuchen und 3% eine Inklusionsklasse einer integrativen Gesamtschule [5]. Knapp die Hälfte aller Mutist*innen auf Förderschulen (48,15%) besuchte eine Sprachheilschule.

Zu Therapiebeginn konnten sich nur weniger als 7% aller Kinder und Jugendlichen verbal in der Schule beteiligen.

53,79% der Mutist*innen konnte im Rahmen ihrer Störung nicht am Schulsport teilnehmen und 15,82% konnten zum Aufnahmezeitpunkt in die Langzeittherapie gar nicht mehr beschult werden und waren Schulabstinent.

Trotz des hohen Anteils an Mutist*innen auf Förderschulen zeigt die Auswertung der Intelligenztestungen eine normalverteilte Stichprobe mit durchschnittlicher bis überdurchschnittlicher Intelligenz. 40,4% zeigten eine durchschnittliche Intelligenz mit Intelligenzquotienten (IQ) zwischen 90 und 109 Punkten. 36,7% der Kinder erreichten leicht bis stark überdurchschnittliche IQ Werte zwischen 110 bis 136 Punkte (Mittelwert: 102,97, SD: 17,58, Minimum: 55, Maximum: 136) (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]).

Diskussion

Im Vergleich mit dem bundesweiten Durchschnitt werden Mutist*innen häufiger auf Förderschulen beschult und selektiver Mutismus kommt in jedem Intelligenzniveau vor. Es ist denkbar, dass vor allem intelligentere Menschen einen SM entwickeln, da sie sich möglicherweise eher reflektieren und ein höheres Störungsbewusstsein für Kommunikationsschwächen und Ängste haben.

Die vorliegende Studie zeigt, dass viele Mutist*innen eine sonderpädagogische Förderung und Begleitung benötigen, um Entwicklungs- und Lernanforderungen erfüllen zu können. Außerdem bestätigt es die Annahme, dass ein SM einen bedeutenden Einfluss auf die schulische Laufbahn hat. Die paradoxe Verteilung von IQ-Werten und Beschulungsformen deckt auf, wie sehr der selektive Mutismus Kinder und Jugendliche in ihren Alltagsfunktionen einschränkt und ihren Bildungsweg beeinflusst.

Fazit

Eine frühzeitige und erfolgreiche Behandlung des selektiven Mutismus ist wichtig, damit sich Kinder und Jugendliche im Rahmen ihrer Intelligenz und Möglichkeiten auch schulisch entwickeln können und nicht unter ihren Möglichkeiten bleiben.


Literatur

1.
Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychartrie und Psychotherapie, Hrsg. Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen des Säuglings-, Kindes-, Jugendalter. Deutscher Ärzte Verlag; 2007. 3. Aufl.: S. 303-10.
2.
Cohan SL, Chavira DA, Shipon-Blum E, Hitchcock C, Roesch SC, Stein MB. Refining the classification of children with selective mutism: a latent profile analysis. J Clin Child Adolesc Psychol. 2008 Oct;37(4):770-84. DOI: 10.1080/15374410802359759 Externer Link
3.
Hartmann B. Mutismus: Zur Theorie und Kasuistik des totalen und elektiven Mutismus. Berlin: Ed. Marhold im Wiss.- Verl. Spiess; 1997.
4.
Lesser-Katz M. Stranger reaction and elective mutism in young children. Am J Orthopsychiatry. 1986;56(3):458-69.
5.
Hoffmann J, Malecki A. Schulen auf einen Blick. Statistisches Bundesamt (Destatis); 2018.