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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

29.09. - 02.10.2022, Leipzig

Die Rolle der Verarbeitung von Konsonanten und Vokalen für den Wortschatz: Eine longitudinale EEG-Verhaltensstudie im ersten Lebensjahr

Vortrag

  • Gesa Schaadt - Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland
  • presenting/speaker Annika Werwach - Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • Hellmuth Obrig - Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • Angela D. Friederici - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenchaften, Leipzig, Deutschland
  • corresponding author Claudia Männel - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland

38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 29.09.-02.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocV16

doi: 10.3205/22dgpp24, urn:nbn:de:0183-22dgpp242

Veröffentlicht: 26. September 2022

© 2022 Schaadt et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Bisherige Verhaltensstudien verweisen auf unterschiedliche Rollen für Konsonanten und Vokale im frühkindlichen Lexikonerwerb, wobei Säuglinge ab einem Alter von etwa 8 Monaten eine Präferenz für Konsonanten in der Wortverarbeitung zeigen. Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, den Prädiktionswert dieser Präferenz mittels elektrophysiologischer (EEG) Befunde zu untersuchen, bevor Kinder diese bereits im Verhalten zeigen. Weiterhin werden die Prädiktionswerte der longitudinalen Verläufe der Konsonanten- und Vokalverarbeitung über das erste Lebensjahr hinweg für den späteren Wortschatz evaluiert.

Material und Methoden: In einer longitudinalen EEG-Studie wurden die Konsonanten- und Vokalverarbeitung von Säuglingen (n=58) im Alter von 2, 6 und 10 Monaten erfasst. Säuglinge hörten häufig präsentierte Standardsilben (/ba/) und seltener präsentierte Silben mit Konsonanten- (/ga/) oder Vokalabweichungen (/bu/). Anhand der sogenannten Mismatch-Reaktion (d.h. der Differenz der Gehirnreaktionen auf Standardsilben und abweichende Silben) konnte so die lautspezifische Unterscheidungsleistung der Säuglinge erfasst werden. Mittels latenter Wachstumskurvenmodelle wurden für diese Unterscheidungsleistungen Startpunkte (mit 2 Monaten) und longitudinale Kurvenverläufe (2–10 Monate) geschätzt - welche wiederum als Prädiktoren für den Wortschatzumfang der Kinder diente, der im Alter von 12 Monaten mittels Elternfragebogen erfasst wurde.

Ergebnisse: Der Kurvenverlauf des Konsonantenmodells wies einen statistisch signifikanten Prädiktionswert für den rezeptiven Wortschatz im Alter von 12 Monaten auf; sowohl für die Veränderung zwischen 2 und 6 Monaten (pcorr=.027) als auch zwischen 6 und 10 Monaten (pcorr=.038). Zusätzlich erwies sich die Unterscheidungsleistung von Konsonanten im Alter von 2 Monaten als Prädiktor für das spätere Lexikon (pcorr=.024). Für die Unterscheidungsleistung von Vokalen ließen sich hingegen keine prädiktiven Effekte für den späteren Wortschatz finden; weder für den Startpunkt der longitudinalen Kurve (pcorr=.872) noch für deren Verlauf (2–6 Monate, pcorr=1.00; 6–10 Monate, pcorr= 872).

Fazit: Diese Ergebnisse bestätigen die spezifische Funktion, die Konsonanten im Vergleich zu Vokalen im frühkindlichen Lexikonerwerb zukommt. Mittels elektrophysiologischer Maße konnte demnach gezeigt werden, dass die Verarbeitung von Konsonanten schon in der frühen Sprachentwicklung eine bedeutende Rolle für den späteren Lexikonerwerb einnimmt, sogar Monate bevor sich diese Präferenz im Verhalten zeigt.


Text

Hintergrund

Bisherige Verhaltensstudien verweisen auf unterschiedliche Rollen für Konsonanten und Vokale im frühkindlichen Lexikonerwerb, wobei Säuglinge ab einem Alter von etwa 8 Monaten eine Präferenz für Konsonanten in der Wortverarbeitung zeigen [1], [2]. Erste Befunde legen außerdem nahe, dass die unterschiedlichen Präferenzen, die Säuglinge für Konsonanten versus Vokale bei der Worterkennung aufweisen, ihre späteren lexikalischen Fähigkeiten vorhersagen [3], [4]. Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, den Prädiktionswert dieser Präferenzen mittels elektrophysiologischer (EEG) Befunde zu untersuchen, bevor Kinder diese bereits im Verhalten zeigen. Weiterhin werden die Prädiktionswerte der longitudinalen Verläufe der Konsonanten- und Vokalverarbeitung über das erste Lebensjahr hinweg für den späteren Wortschatz evaluiert.

Material und Methoden

In einer longitudinalen EEG-Studie mit neurotypischen Säuglingen (n=58; 29 weiblich) wurde deren Unterscheidungsleistung von Konsonanten und Vokalen im Alter von 2, 6 und 10 Monaten erfasst. Zu jedem Messzeitpunkt hörten die Säuglinge in einem Oddball-Paradigma Standardsilben (/ba/) und Silben mit Konsonanten- (/ga/) oder Vokalabweichungen (/bu/). Anhand der sogenannten Mismatch-Reaktion im EEG (MMR, d.h. der Differenz der Gehirnreaktionen auf Standardsilben und abweichende Silben) konnte so die lautspezifische Unterscheidungsleistung der Säuglinge erfasst werden. Mittels latenter Wachstumskurvenmodelle [5] wurden für diese Unterscheidungsleistung Startpunkte (intercept, 2 Monate) und longitudinale Kurvenverläufe (slopes, 2–10 Monate) geschätzt. Intercepts und slopes des Konsonanten- bzw. des Vokalmodells dienten wiederum als Prädiktor für den Wortschatzumfang der Kinder, der im Alter von 12 Monaten mittels Elternfragebogen erfasst wurde.

Ergebnisse

Der Kurvenverlauf des Konsonantenmodells wies einen statistisch signifikanten Prädiktionswert für den rezeptiven Wortschatz im Alter von 12 Monaten auf (korrigiert für den Startpunkt der Kurve); sowohl für die Veränderung zwischen 2 und 6 Monaten (pcorr=.027) als auch zwischen 6 und 10 Monaten (pcorr<.038). Zusätzlich erwies sich die Unterscheidungsleistung von Konsonanten im Alter von 2 Monaten als Prädiktor für das spätere Lexikon (pcorr<.024). Für die Unterscheidungsleistung von Vokalen ließen sich hingegen keine prädiktiven Effekte für den rezeptiven Wortschatz im Alter von 12 Monaten finden; weder für den Startpunkt der longitundinalen Kurven (intercept, pcorr=.872) noch für deren Verlauf (slope 2–6 Monate, pcorr=1.00; slope 6–10 Monate, pcorr=.872).

Diskussion und Fazit

Diese Ergebnisse bestätigen die spezifische Funktion, die Konsonanten im Vergleich zu Vokalen im frühkindlichen Lexikonerwerb zukommt [1], [2]. Mittels elektrophysiologischer Maße konnte gezeigt werden, dass die Verarbeitung von Konsonanten schon in der frühen Sprachentwicklung eine bedeutende Rolle für den späteren Lexikonerwerb spielt, sogar Monate bevor sich diese Präferenz im Verhalten zeigt. Außerdem zeigte sich, dass dem longitudinalen Verlauf der Konsonantenverarbeitung eine zusätzliche Bedeutung für das spätere Lexikon zukommt. Das bedeutet, dass Entwicklungsverläufe früher Unterscheidungsleistungen hinsichtlich ihres Prädiktionswertes späterer lexikalischer Fähigkeiten berücksichtigt werden sollten.


Literatur

1.
Nishibayashi LL, Nazzi T. Vowels, then consonants: Early bias switch in recognizing segmented word forms. Cognition. 2016 Oct;155:188-203. DOI: 10.1016/j.cognition.2016.07.003 Externer Link
2.
Poltrock S, Nazzi T. Consonant/vowel asymmetry in early word form recognition. J Exp Child Psychol. 2015 Mar;131:135-48. DOI: 10.1016/j.jecp.2014.11.011 Externer Link
3.
Von Holzen K, Nishibayashi LL, Nazzi T. Consonant and Vowel Processing in Word Form Segmentation: An Infant ERP Study. Brain Sci. 2018 Jan;8(2). DOI: 10.3390/brainsci8020024 Externer Link
4.
Von Holzen K, Nazzi T. Emergence of a consonant bias during the first year of life: New evidence from own-name recognition. Infancy. 2020 May;25(3):319-46. DOI: 10.1111/infa.12331 Externer Link
5.
Duncan TE, Duncan SC. The ABC's of LGM: An Introductory Guide to Latent Variable Growth Curve Modeling. Soc Personal Psychol Compass. 2009 Dec;3(6):979-91. DOI: 10.1111/j.1751-9004.2009.00224.x Externer Link