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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

29.09. - 02.10.2022, Leipzig

Beobachtung der Aerosolentstehung an den menschlichen Stimmlippen

Vortrag

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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 29.09.-02.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocV5

doi: 10.3205/22dgpp06, urn:nbn:de:0183-22dgpp062

Veröffentlicht: 26. September 2022

© 2022 Fritzsche et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Aktuelle Studien haben gezeigt, dass sich SARS-CoV-2 während der infektiösesten Phase typischerweise in den oberen Atemwegen vermehrt. Somit ist anzunehmen, dass virushaltige Aerosole vorwiegend in dieser Region erzeugt werden, d.h. im Kehlkopf- und Mundtrakt, insbesondere während der Stimmgebung. Die genauen Mechanismen der Aerosolbildung in den oberen Atemwegen sind jedoch bis heute unbekannt. Daher ist das übergeordnete Ziel dieses Projektes, die Details der Zerstäubungsmechanismen zu verstehen und die einflussreichsten Parameter für die potenzielle Verbreitung von Viren durch Aerosole während der Stimmbildung abzuleiten.

Material und Methoden: Es wurde ein in-vitro-Modell der menschlichen Stimmlippen erstellt, das deren oszillierende Bewegung realistisch nachbildet. Die erzeugten Schwingungsamplituden und -frequenzen ähneln mit 1–2 mm, bzw. 75–150 Hz der Stimmbildung eines erwachsenen Mannes. Die Stimmlippen werden während der Bewegung mit einem definierten Volumenstrom (10–30 l/min) feuchter Luft durchströmt und dabei kontinuierlich mit einem künstlichen Mukus versorgt. Die Zerstäubung des Mukus an den Stimmlippen wurde mit Hilfe einer Hochgeschwindigkeitskamera visualisiert und die dabei entstehenden Tropfen hinsichtlich Größenverteilung mittels hochauflösender Optik analysiert.

Ergebnisse: Die Hochgeschwindigkeitsaufnahmen der Aerosolbildung zeigen mehrere Entstehungsmechanismen der Aerosole, die zu unterschiedlichen Partikelgrößen beitragen. Die Partikelgrößen sind näherungsweise log-normalverteilt. Eine Erhöhung der Vibrationsfrequenz erzeugt kleinere Partikelgrößen mit einer größeren Häufigkeit. Insgesamt wurde dabei auch eine Zunahme der entstandenen Partikelanzahl pro Periode festgestellt. Eine Erhöhung des Luftvolumenstromes durch die Stimmlippen führte zu einer vermehrten Entstehung größerer Partikel bei gleichzeitiger Reduktion der Häufigkeit kleinerer Partikel.

Diskussion: Die hier gefundenen Größenverteilungsfunktionen stimmen gut mit typischen Verteilungsfunktionen für Partikel, die in den Atemwegen erzeugt werden, überein. Der Vorteil ist hier, dass unsere Verteilungsfunktionen isoliert von anderen Aerosolerzeugungsmechanismen z.B. in den unteren Atemwegen oder im Mund betrachtet werden können.

Fazit: Höhere Stimmlagen, die mit einer Erhöhung der Vibrationsfrequenz einhergehen, führen zu einer Verringerung der Partikelgröße. Die dadurch ausgestoßenen Aerosole werden aufgrund ihres kleineren Durchmessers weiter mit der Luft transportiert und erweitern damit den Ansteckungsradius.


Text

Hintergrund

Aktuelle Studien haben gezeigt, dass sich SARS-CoV-2 während der infektiösesten Phase typischerweise in den oberen Atemwegen vermehrt [1]. Somit ist anzunehmen, dass virushaltige Aerosole vorwiegend in dieser Region erzeugt werden, d.h. im Kehlkopf- und Mundtrakt, insbesondere während der Stimmgebung. Patterson et al. [2] vermuten, dass Flüssigkeitsbrücken, die beim Schließen der Glottis entstehen und beim anschließenden Öffnen zerreißen, für die Aerosolentstehung verantwortlich sind. Aufgrund der eingeschränkten optischen Zugänglichkeit sind die genauen Mechanismen der Aerosolbildung insbesondere an den Stimmlippen allerdings bis heute unbekannt. Daher ist das übergeordnete Ziel dieser Studie, die Details der Zerstäubungsmechanismen zu verstehen. Einflussparameter für die Entstehung bestimmter Partikelgrößen sowie die potenzielle Verbreitung von Viren durch Aerosole während der Stimmbildung sollen abgeleitet werden.

Material und Methoden

Die Form des verwendeten Stimmlippenmodells basiert auf dem von Scherer et al. [3] vorgestellten „M5“-Modell und entspricht den Maßen für einen erwachsenen Mann. Die komplexe Form der menschlichen Stimmlippen (SL) wurde dabei aufgeteilt in (s. Abbildung 1 a, b [Abb. 1]): einen stark abstrahierten, beweglichen Teil, die zylindrischen Modell-SL aus extrem weichem Silikon und einen starren, ähnlich realer SL geformten Teil, die Strömungsführungen. Um Frequenz und Amplitude der SL-Schwingung genau vorgeben zu können, erfolgt eine aktive mechanische Anregung. Vereinfachend oszilliert nur eine der SL, die zweite wird fixiert. In die Modell-Trachea – den Kanal aus Plexiglas – wird mithilfe eines Massenstromreglers (MFC) ein definierter, konstanter Volumenstrom angefeuchteter Luft geleitet, welcher durch die Glottis in die Umgebung austritt und dabei einen auf die SL aufgetragenen künstlichen Mukus zerstäubt. Luft-Volumenstrom , SL-Frequenz (f) und SL-Amplitude wurden in für die menschliche Stimmgebung physiologischen Bereichen [4] variiert:

= [10;20;30] L/min; f = [75;100;125;150] Hz; = [0,5;0,7;1,0] mm.

Das entstehende Spray wird einerseits direkt oberhalb der Glottis im Durchlichtverfahren aufgenommen (s. Abbildung 1 c [Abb. 1]), andererseits werden die Entstehungsmechanismen der Tröpfchen mithilfe von High-Speed-Aufnahmen der Stimmlippen in der Draufsicht visualisiert (s. Abbildung 1 d [Abb. 1]). Anhand der Messbilder aus dem Durchlichtverfahren können die Größen der aufgenommenen Partikel bestimmt werden. In der anschließenden statistischen Auswertung lassen sich die zugrundeliegenden Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen (PDF) für jede Parametereinstellung mithilfe eines Kernel-Density-Estimators ableiten.

Ergebnisse

Die Ergebnisse der Durchlichtaufnahmen sind in Abbildung 2 [Abb. 2] für die Variation der einzelnen Parameter gegenübergestellt. Fast alle Verteilungen sind bimodal, was auf unterschiedliche Entstehungsmechanismen hinweist. Der erste Peak liegt überall bei ca. 13 µm.

Eine Variation der Parameter nimmt insbesondere Einfluss auf Ausprägung und Lage des zweiten Peaks, d.h. Partikel der Größenordnung 100 µm. Eine Erhöhung des Volumenstroms vergrößert die Höhe des zweiten Peaks deutlich (Entstehung mehr größerer Partikel), wohingegen eine Erhöhung der Frequenz keinen Einfluss auf dessen Ausprägung hat, ihn aber stattdessen in Richtung kleinerer Partikelgrößen verschiebt. Weiterhin scheint eine „Grenzamplitude“ zu existieren, ab der der zweite Peak verschwindet und wesentlich mehr sehr kleine Partikel entstehen.

Diskussion

Bei der Zerstäubung an den Modell-SL entstehen Partikel in der für Menschen im Kehlkopfmodus erwarteten Größenordnung [5]. Alle Parametervariationen haben einen deutlichen Einfluss auf die entstehenden Partikelgrößen. Die auftretenden Partikelentstehungsmechanismen können zeitaufgelöst in der Draufsicht (s. Abbildung 1 d [Abb. 1]) beobachtet werden. Der Vorteil des in-vitro-Modells ist, dass Verteilungsfunktionen isoliert von anderen Aerosolerzeugungsmechanismen c in den unteren Atemwegen oder im Mund betrachtet werden können.

Fazit/Schlussfolgerung

Höhere Stimmlagen, die mit einer Erhöhung der Vibrationsfrequenz einhergehen, führen zu einer Verringerung der Partikelgröße. Die dadurch ausgestoßenen Aerosole werden aufgrund ihres kleineren Durchmessers weiter und länger mit der Luft transportiert und erweitern damit Ansteckungsradius und -zeit. Lauteres Sprechen, d.h. eine Erhöhung des Volumenstromes, führt eher zu einer Verringerung kleinerer Partikel bei vermehrter Entstehung größerer Aerosole.


Literatur

1.
Wölfel R, Corman VM, Guggemos W, Seilmaier M, Zange S, Müller MA, Niemeyer D, Jones TC, Vollmar P, Rothe C, Hoelscher M, Bleicker T, Brünink S, Schneider J, Ehmann R, Zwirglmaier K, Drosten C, Wendtner C. Virological assessment of hospitalized patients with COVID-2019. Nature. 2020 May;581(7809):465-9. DOI: 10.1038/s41586-020-2196-x Externer Link
2.
Patterson B, Wood R. Is cough really necessary for TB transmission? Tuberculosis (Edinb). 2019 Jul;117:31-5. DOI: 10.1016/j.tube.2019.05.003 Externer Link
3.
Scherer RC, Shinwari D, De Witt KJ, Zhang C, Kucinschi BR, Afjeh AA. Intraglottal pressure profiles for a symmetric and oblique glottis with a divergence angle of 10 degrees. J Acoust Soc Am. 2001 Apr;109(4):1616-30. DOI: 10.1121/1.1333420 Externer Link
4.
Mittal R, Erath BD, Plesniak MW. Fluid dynamics of human phonation and speech. Annu Rev Fluid Mech. 2013;45:437-67. DOI: 10.1146/annurev-fluid-011212-140636 Externer Link
5.
Johnson GR, Morawska L, Ristovski ZD, Hargreaves M, Mengersen K, Chao CYH, Wan MP, Li Y, Xie X, Katoshevski D, Corbett S. Modality of human expired aerosol size distributions. J Aerosol Sci. 2011;42(12):839-51. DOI: 10.1016/j.jaerosci.2011.07.009 Externer Link