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Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung profitieren nicht von perzeptuellen Ankern in der Sprachverarbeitung
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Veröffentlicht: | 28. Oktober 2021 |
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Gliederung
Zusammenfassung
Hintergrund: Studien mit Erwachsenen zur Tonhöhenunterscheidung belegen eine deutlich höhere Diskriminationsleistung, wenn Tonwiederholungen als „perzeptuelle Anker“ für die Unterscheidungsleistung genutzt werden können. Im Gegensatz zu gesunden Erwachsenen profitieren Erwachsene mit einer Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) nicht von solchen Wiederholungen im Verarbeitungskontext bei Aufgaben zur Tonhöhenunterscheidung, was auf ein eingeschränktes perzeptuelles Ankern hindeutet. Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, perzeptuelles Ankern von der akustischen Domäne auf die Sprachverarbeitung zu übertragen und bei Kindern mit einer und ohne eine LRS zu untersuchen.
Material und Methoden: Bei Schulkindern mit einer LRS (n=21; 11,0 Jahre) und ohne eine LRS (n=20; 10,9 Jahre) wurden elektrophysiologische Daten in Reaktion auf Sprachstimuli erhoben. Die Schulkinder hörten 80 Silbenpaare in einem Anker-Block (konstante Tonhöhen-Markierung der ersten Silbe) und 80 Silbenpaare in einem Nichtanker-Block (variable Tonhöhen-Markierung der ersten Silbe). In beiden Blöcken waren die zweiten Silben jeweils gleich, um die Gehirnantworten auf identische Silben vergleichen zu können, die entweder einer akustisch konstanten oder variablen Kontextsilbe folgten.
Ergebnisse: Beide Gruppen zeigten reduzierte sensorische elektrophysiologische Reaktionen auf die ersten Silben der Silbenpaare, die mit konstanter Tonhöhe und nicht mit variabler Tonhöhe präsentiert wurden. Dies legt nahe, dass alle Kinder die Wiederholungen der Ankersilben (d.h. mit konstanter Tonhöhe) verarbeiteten. Allerdings zeigten Kinder ohne eine LRS einen früheren Wiederholungseffekt als Kinder mit einer LRS, was auf eine stärker automatisierte Verarbeitung von Wiederholungen hinweist. In Reaktion auf die zweiten Silben, die auf eine Anker-Silbe folgten, zeigten nur Kinder ohne eine LRS eine erhöhte sensorische elektrophysiologische Reaktion im Vergleich zu Silben, die auf eine variable Silbe folgten. Dieser Ankereffekt gleicht elektrophysiologischen Befunden von Erwachsenen, die verbesserte akustische Unterscheidungsleistungen aufgrund erhöhter selektiver Aufmerksamkeit anzeigen.
Diskussion: Unsere Ergebnisse legen Verarbeitungsunterschiede zwischen Kindern mit einer und ohne eine LRS nahe. Nur Kinder ohne eine LRS zeigten eine verstärkte Reaktion auf Sprachstimuli, die im Kontext eines akustischen Ankers präsentiert wurden. Kinder mit einer LRS schienen hingegen nicht von akustischen Ankern zu profitieren, sie zeigten in ihrer Sprachverarbeitung keine Vorteile durch Wiederholungen im Verarbeitungskontext.
Text
Hintergrund
Studien mit Erwachsenen zur Tonhöhenunterscheidung belegen eine deutlich höhere Diskriminationsleistung, wenn Tonwiederholungen als „perzeptuelle Anker“ für die Unterscheidungsleistung genutzt werden können [1], [2]. Im Gegensatz zu gesunden Erwachsenen profitieren Erwachsene mit einer Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) nicht von solchen Wiederholungen im Verarbeitungskontext bei Aufgaben zur Tonhöhenunterscheidung, was auf ein eingeschränktes perzeptuelles Ankern hindeutet [2], [3]. Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, perzeptuelles Ankern von der akustischen Domäne auf die Sprachverarbeitung zu übertragen und bei Kindern mit einer und ohne eine LRS zu untersuchen.
Material und Methoden
Bei Schulkindern mit LRS (n=21; 11.05 Jahre, SD=1.13) und ohne LRS (n=20; 11.18 Jahre, SD=1.17) wurden elektrophysiologische Daten in Reaktion auf Sprachstimuli erhoben. Im Experiment hörten die Schulkinder 80 Silbenpaare in einem Anker-Block (konstante Tonhöhen-Markierung der ersten Silbe) und 80 Silbenpaare in einem Nichtanker-Block (variable Tonhöhen-Markierung der ersten Silbe). In beiden Blöcken waren die zweiten Silben jeweils gleich, um die elektrophysiologischen Gehirnantworten auf identische Silben vergleichen zu können, die entweder einer akustisch konstanten oder einer variablen Kontextsilbe folgten.
Ergebnisse
Beide Gruppen zeigten reduzierte sensorische elektrophysiologische Reaktionen auf die ersten Silben der Silbenpaare, die mit konstanter Tonhöhe und nicht mit variabler Tonhöhe präsentiert wurden (Varianzanalyse für Messwiederholung; Interaktion Bedingung x Elektrodenregion; F(1.31,51.07)=5.87; p<.001; η2=0.131). Dies legt nahe, dass alle Kinder die Wiederholungen der Ankersilben (d.h. mit konstanter Tonhöhe) verarbeiteten. Allerdings zeigten Kinder ohne LRS einen zusätzlichen früheren Wiederholungseffekt als Kinder mit LRS (Varianzanalyse für Messwiederholung; Interaktion Bedingung x Gruppe; F(1,39)=8.92; p<.001; η2=0.186), was auf eine stärker automatisierte Verarbeitung von Wiederholungen hinweist. In Reaktion auf die zweiten Silben, die auf eine Anker-Silbe folgten, zeigten nur Kinder ohne LRS eine erhöhte sensorische elektrophysiologische Reaktion im Vergleich zu Silben, die auf eine variable Silbe folgten (Varianzanalyse für Messwiederholung; Interaktion Bedingung x Gruppe x Elektrodenregion; F(1.37,53.53)=5.05; p<.001; η2=0.115) Dieser Ankereffekt gleicht elektrophysiologischen Befunden von Erwachsenen, die verbesserte akustische Unterscheidungsleistungen aufgrund erhöhter selektiver Aufmerksamkeit anzeigen [4], [5].
Diskussion und Fazit
Unsere Ergebnisse legen Verarbeitungsunterschiede zwischen Kindern mit und ohne LRS nahe. Zum einen zeigten Kinder mit LRS eine weniger automatisierte Verarbeitung von Stimuluswiederholungen, wovon bereits in früheren Studien berichtet wurde [6], [7]. Zum anderen zeigten nur Kinder ohne LRS eine verstärkte elektrophysiologische Reaktion auf Sprachstimuli, die im Kontext von Stimuluswiederholungen, also eines akustischen Ankers, präsentiert wurden. Kinder mit LRS schienen hingegen nicht von akustischen Ankern zu profitieren, sie zeigten in ihrer Sprachverarbeitung keine Vorteile durch Wiederholungen im Verarbeitungskontext.
Literatur
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