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37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 18.09.2021, digital

Epidemiologische Daten zu selektivem Mutismus im Kindes- und Jugendalter

Vortrag

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  • author presenting/speaker Leonie Leusch - Abteilung Kommunikationsstörungen, HNO-Klinik Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Belinda Fuchs - Gesundheitszentrum Glantal, Abteilung Sprachheilzentrum, Meisenheim, Deutschland
  • author Maik Herrmann - Klinik Viktoriastift, Abteilung Sprachheiltherapie, Haus Oswaldhöhe, Rheinhessen-Fachklinik Alzey, Alzey, Deutschland
  • corresponding author Anne K. Läßig - Abteilung Kommunikationsstörungen, HNO-Klinik Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland

37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). sine loco [digital], 17.-18.09.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. DocV3

doi: 10.3205/21dgpp37, urn:nbn:de:0183-21dgpp371

Veröffentlicht: 28. Oktober 2021

© 2021 Leusch et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Selektiver Mutismus (F94.0) ist eine Kommunikationsstörung, die durch die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, definiert wird. Die Erkrankung ist mit einer Prävalenz von 0,7–1‰ (etwa 2–8 pro 10.000 Kindern nach Steinhausen et al.) eine eher seltene kindliche Störung. In der aktuell noch gültigen Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD10) wird der selektive Mutismus den Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend zugeordnet. Seit 2019 gehört dieses Krankheitsbild im neuen ICD11-Katalog zu den eigenständigen Angststörungen. Einflussfaktoren sind unter anderem die familiäre Belastung mit selektivem Mutismus und andere psychische Störungen.

Material und Methoden: Es erfolgte eine retrospektive unizentrische Datenanalyse von 176 Kindern mit Selektivem Mutismus des Sprachheilzentrums Meisenheim mit Auswertung von Therapieverläufen aus dem Zeitraum 2006 bis einschließlich 2020. Dabei wurden allgemeine Angaben zu Freizeit, familiären Umständen, frühkindlicher Entwicklung, Bildung und dem Therapieverlauf erfasst.

Ergebnisse: Von 171 Kindern mit selektivem Mutismus im Alter von 6 bis 20 Jahren waren 70,5% weiblich (n=124) und 26,7% männlich (n=47), was einem Verhältnis von 3:1 entspricht. Mindestens ein ebenfalls mutistisches Geschwisterkind kam bei 15,8% (n=25) vor. Bei 28,5% (n=45) gab mindestens ein Elternteil anamnestisch an, in der eigenen Kindheit oder Jugend selektiv mutistisch gewesen zu sein. Bei 5,1% (n=8) zeigte sich, dass sowohl mindestens ein Geschwisterkind als auch ein Elternteil betroffen ist oder war. Insgesamt wiesen 62 der 158 Kinder (39,2%) eine familiäre Belastung mit selektivem Mutismus auf. Unter den 158 betroffenen Kindern befanden sich 7 Geschwisterpaare, von denen 4 Zwillingspaare waren, die gemeinsam zur Behandlung des selektiven Mutismus aufgenommen wurden. Somit gehörten 5% der Kinder einem mutistischen Zwillingspaar an.

Diskussion: Für die Entstehung von Angststörung konnten in anderen Studien genetische Faktoren gefunden werden, wobei weibliche Angehörige ein doppelt so hohes Risiko hatten. Diese epidemiologische Analyse bestätigt, dass auch für selektiven Mutismus eine familiäre Häufung besteht und somit ein genetischer Einfluss anzunehmen ist. Auch die Verteilung der Geschlechter entspricht dem angegebenen Risikoprofil.

Fazit: Geschwister und Eltern von selektiv mutistischen Kindern sollten gezielt zu Angst- und Kommunikationsstörungen in der Familie befragt und in die Therapie einbezogen werden.


Text

Einleitung

Selektiver Mutismus (F94.0) ist eine Kommunikationsstörung, die durch die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, definiert wird. Die Erkrankung ist mit einer Prävalenz von 0,7–1‰ (etwa 2–8 pro 10.000 Kindern) eine eher seltene kindliche Störung [1], [2]. In der aktuell noch gültigen Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD10) wird der selektive Mutismus den Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend zugeordnet. Seit 2019 gehört dieses Krankheitsbild im neuen ICD11-Katalog zu den eigenständigen Angststörungen. Einflussfaktoren sind unter anderem die familiäre Belastung mit selektivem Mutismus und andere psychische Störungen.

Material und Methoden

Es erfolgte eine retrospektive unizentrische Datenanalyse von 176 Kindern mit Selektiven Mutismus des Sprachheilzentrums Meisenheim mit Auswertungen von Therapieverläufen aus dem Zeitraum 2006 bis einschließlich 2020. Dabei wurden Daten zu Freizeit, familiären Umständen, frühkindlicher Entwicklung, Bildung und dem Therapieverlauf erfasst.

Ergebnisse

Von 171 Kindern mit selektivem Mutismus im Alter von 6 bis 20 Jahren waren 70,5% weiblich (n=124) und 26,7% männlich (n=47), was einem Verhältnis von 3:1 entspricht. Bei Aufnahme waren die Kinder im Mittel 13,02 Jahre alt (Median: 13,00, Standardabweichung σ: 3,104 Jahre). Die Jungen hatten ein mittleres Aufnahmealter von 13,64 Jahren (Median: 14,00; Range 7–18 Jahre), die Mädchen von 12,79 Jahren (Median: 13,00, Range: 6–20 Jahre). Es wurden vier Alterskohorten zur Analyse der Therapieverläufe gebildet, dabei zeigte sich, dass sich das Geschlechterverhältnis mit dem Alter veränderte. Waren in der jüngsten Gruppe nur 11,76% männlich, so stieg der Anteil der Jungen bis zum Alter von 15 Jahren bis auf 36,21% an, um dann auf 30,95% abzufallen.

Weiterhin wurden die familienanamnestischen Daten analysiert. Dabei zeigte sich, dass mindestens ein ebenfalls mutistisches Geschwisterkind bei 15,8% (n=25) der Betroffenen vorkam. Unter den 158 betroffenen Kindern und Jugendlichen befanden sich 7 Geschwisterpaare, von denen 4 Zwillingspaare waren, die gemeinsam zur Behandlung des selektiven Mutismus aufgenommen wurden. Somit gehören 5% der Patienten einem mutistischen Zwillingspaar an. Selbst bei aktuellem Höchststand an Mehrlingsgeburten im Jahr 2020 liegt der Anteil der Zwillingspaare unter den Neugeborenen bei nur 4%. Auch Weinstock et al. konnten 2020 feststellen, dass Zwillinge unter den Mutisten überproportional häufig vertreten sind [3]. Bei 28,5% (n=45) gab mindestens ein Elternteil anamnestisch an, in der eigenen Kindheit oder Jugend selektiv mutistisch gewesen zu sein. Laut der von Capozzi im Jahr 2018 veröffentlichten Studie haben Eltern von Kindern mit selektivem Mutismus höhere Werte auf der SCL-90-R Zwangsskala, der SCL-90-R Phobie- und Angst-Skala und dem Global Severity Index, als die Eltern von Kindern mit generalisierter Angststörung [4]. Bei 5,1% (n=8) zeigte sich, dass sowohl mindestens ein Geschwisterkind als auch ein Elternteil betroffen ist oder war. Insgesamt wiesen 62 der 158 Kinder (39,2%) eine familiäre Belastung mit selektivem Mutismus auf.

Die stationäre Therapiedauer betrug durchschnittlich 9,63 Monate (Median 10,00 Monate) und war abhängig vom Schweregrad des Störungsbildes. Die minimale Aufenthaltsdauer betrug 3 Tage, die maximale Therapielänge 27 Monate, also knapp über 2 Jahre. Hochgradig Betroffene (n=59) wurden im Durchschnitt 10,19 Monate und geringgradig betroffene Kinder und Jugendliche (n=13) 8,15 Monate therapiert. Betrachtet man die Ausprägung des Mutismus zu Therapiebeginn in Bezug zur familiären Belastung, zeigt sich, dass die Gruppe der hochgradig Betroffenen mit 45,2% durch die Patienten mit familiärer Belastung dominiert wird (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Die durchschnittliche Therapiedauer der Patienten ohne familiäre Vorbelastung mit selektivem Mutismus (n=96) liegt bei 9,5 Monaten (σ= 5,3 Monate), die mittlerer Therapiedauer der Kinder und Jugendlichen mit familiärer Belastung (n=62) beträgt 9,8 Monate (σ= 4,46 Monate). Oerbecks „5 Jahre follow-up Studie“ aus dem Jahr 2018 belegt, dass eine familiäre Belastung mit selektivem Mutismus ein signifikant negativer Prädiktor für den Schweregrad und das Outcome des Mutsimus ist [5].

Diskussion

Für die Entstehung einer Angststörung konnten in anderen Studien genetische Faktoren gefunden werden, wobei weibliche Angehörige ein doppelt so hohes Risiko hatten [6], [7]. Diese epidemiologische Analyse bestätigt, dass auch für selektiven Mutismus eine familiäre Häufung besteht und somit ein genetischer Einfluss anzunehmen ist. Auch die Verteilung der Geschlechter entspricht dem angegebenen Risikoprofil. Während im jungen Kindesalter insbesondere Mädchen betroffen sind (88,24% bei den unter 8-Jährigen), steigt der Anteil der Jungen mit zunehmendem Alter bis zum 15. Lebensjahr an.

Fazit

Geschwister und Eltern von selektiv mutistischen Kindern sollten gezielt zu Angst- und Kommunikationsstörungen in der Familie befragt und in die Therapie einbezogen werden. Bei ausbleibendem ambulantem Therapieerfolg und höhergradiger Ausprägung der Symptomatik ist ein langfristiger stationärer Therapieansatz in einer spezialisierten Rehabilitationseinrichtung nötig und Erfolg versprechend.


Literatur

1.
Steinhausen HC, Juzi C. Elective mutism: an analysis of 100 cases. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 1996;35(5):606-14. DOI: 10.1097/00004583-199605000-00015 Externer Link
2.
Steinhausen HC, Adamek R. The family history of children with elective mutism: a research report. Eur Child Adolesc Psychiatry. 1997;6(2):107-11. DOI: 10.1007/BF00566673 Externer Link
3.
Weinstock R, Caporino N, Crowell McQuarrie S, Ronkin E, Wright LA, Ludwig NN, Tone EB. Behavioral Assessment and Treatment of Selective Mutism in Identical Twins. Clinical Case Studies. 2020;19(6):418-37. DOI: 10.1177/1534650120950526 Externer Link
4.
Capozzi F, Manti F, Di Trani M, Romani M, Vigliante M, Sogos C. Children’s and parent’s psychological profiles in selective mutism and generalized anxiety disorder: a clinical study. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2018;27(6):775-83. DOI: 10.1007/s00787-017-1075-y Externer Link
5.
Oerbeck B, Overgaard KR, Stein MB, Pripp AH, Kristensen H. Treatment of selective mutism: a 5-year follow-up study. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2018;27(8):997-1009. DOI: 10.1007/s00787-018-1110-7 Externer Link
6.
Bandelow B, Baldwin D, Abelli M, Bolea-Alamanac B, Bourin M, Chamberlain SR, Cinosi E, Davies S, Domschke K, Fineberg N, Grünblatt E, Jarema M, Kim YK, Maron E, Masdrakis V, Mikova O, Nutt D, Pallanti S, Pini S, Ströhle A, Thibaut F, Vaghi MM, Won E, Wedekind D, Wichniak A, Woolley J, Zwanzger P, Riederer P. Biological markers for anxiety disorders, OCD and PTSD: A consensus statement. Part II: Neurochemistry, neurophysiology and neurocognition. World J Biol Psychiatry. 2017;18(3):162-214. DOI: 10.1080/15622975.2016.1190867 Externer Link
7.
Stein MB, Yang BZ, Chavira DA, Hitchcock CA, Sung SC, Shipon-Blum E, Gelernter J. A common genetic variant in the neurexin superfamily member CNTNAP2 is associated with increased risk for selective mutism and social anxiety-related traits. Biol Psychiatry. 2011;69(9):825-31. DOI: 10.1016/j.biopsych.2010.11.008 Externer Link