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37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 18.09.2021, digital

Der Prädiktionswert früher Vokalisationen für den produktiven Wortschatz: Befunde für das erste Lebensjahr

Vortrag

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  • presenting/speaker Annika Werwach - Tagesklinik für Kognitive Neurologie, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • Dirk Mürbe - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • Gesa Schaadt - Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland
  • corresponding author Claudia Männel - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland

37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). sine loco [digital], 17.-18.09.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. DocV2

doi: 10.3205/21dgpp36, urn:nbn:de:0183-21dgpp364

Veröffentlicht: 28. Oktober 2021

© 2021 Werwach et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Bereits vor ihren ersten Wortäußerungen kommunizieren Säuglinge mit ihrer Umgebung mittels verschiedener Vokalisationen. Erste Studien zeigen, dass sprachähnliche Vokalisationen die späteren Sprachproduktionsleistungen der Kinder vorhersagen. Dieser Zusammenhang wurde allerdings bisher nur für spätere Vokalisationsformen, beginnend mit dem 9. Lebensmonat, nachgewiesen. Die vorliegende Studie hat zum Ziel, den Prädiktionswert früherer Vokalisationsformen, die bereits vor dem 9. Lebensmonat auftreten, für die Sprachentwicklung zu untersuchen.

Material und Methoden: Mittels Elternfragebögen wurden für deutschsprachige Säuglinge (n=56) sowohl das Ausmaß ihrer Vokalisationen im Alter von 6 Monaten (Vocal Reactivity Scale, Deutsche Version des Infant Behavior Questionnaire – Revised, IBQ-R) als auch ihre produktiven und rezeptiven Sprachfähigkeiten im Alter von 12 Monaten (Elternfragebogen für die Früherkennung von Risikokindern, ELFRA) erhoben. Mittels Regressionsanalysen wurde der korrelative Zusammenhang zwischen Vokalisationsausmaß im Alter von 6 Monaten und jeweils produktivem und rezeptivem Wortschatzumfang im Alter von 12 Monaten ermittelt.

Ergebnisse: Die Regressionsanalysen (korrigiert für Geschlecht und Altersvarianz zu beiden Erhebungszeitpunkten) zeigen das Vokalisationsausmaß als statistisch signifikanten Prädiktor für den produktiven Wortschatz (t(51)=2.79, p=.007), jedoch nicht den rezeptiven Wortschatz (t(51)=1.04, p=.305) an. Die Ergebnisse belegen demnach einen prädiktiven Zusammenhang zwischen frühen Vokalisationen und späterer Sprachproduktion.

Diskussion: Die vorliegenden Befunde verdeutlichen die Relevanz kindlicher Vokalisationen, die bereits in der ersten Hälfte des ersten Lebensjahres auftreten, für spätere Sprachentwicklungsschritte. Diese Erkenntnis kann im Rahmen früher Präventions- und Interventionsprogramme bei der Erkennung atypischer Sprachentwicklungsverläufe Berücksichtigung finden.


Text

Hintergrund

Säuglinge kommunizieren mit ihrer Umgebung bereits vor ihren ersten Wortäußerungen mittels verschiedener Vokalisationen [1], [2], [3]. Erste Studien belegen einen prädiktiven Zusammenhang zwischen sprachähnlichen Vokalisationen und der späteren Sprachproduktionsleistung [4], [5], [6], aber nicht der Sprachverständnisleistung der Kinder [6], [7]. Allerdings wurde dieser differentielle Zusammenhang bisher nur für spätere Vokalisationsformen, beginnend mit dem 9. Lebensmonat, nachgewiesen. Die vorliegende Studie hat zum Ziel, den Prädiktionswert früherer Vokalisationsformen, die bereits in der ersten Hälfte des ersten Lebensjahres auftreten, für die produktive und rezeptive Sprachentwicklung zu untersuchen.

Material und Methoden

Mittels Elternfragebögen wurden für deutschsprachige Säuglinge (n=56) sowohl der Vokalisationsumfang im Alter von 6 Monaten (Vocal Reactivity Scale, Deutsche Version des Infant Behavior Questionnaire – Revised, IBQ-R [8], [9]) als auch die produktiven und rezeptiven Sprachfähigkeiten im Alter von 12 Monaten (Elternfragebogen für die Früherkennung von Risikokindern, ELFRA [10]) erhoben. Mittels multipler linearer Regressionsanalysen wurde der prädiktive Zusammenhang zwischen Vokalisationsumfang im Alter von 6 Monaten und jeweils produktivem und rezeptivem Wortschatzumfang im Alter von 12 Monaten ermittelt (kontrolliert für die Effekte von Geschlecht und Altersvarianz zu beiden Erhebungszeitpunkten und korrigiert für multiple Vergleiche).

Ergebnisse

Die Regressionsanalysen zeigen den Vokalisationsumfang als einzigen statistisch signifikanten Prädiktor für den produktiven Wortschatz (β=0.35, t(51)=2.79, p=.007), jedoch nicht den rezeptiven Wortschatz (β=0.14, t(51)=1.04, p=.305). Das heißt, ein größerer Vokalisationsumfang im Alter von 6 Monaten geht mit einer weiter fortgeschrittenen produktiven Sprachentwicklung im Alter von 12 Monaten einher. Die Ergebnisse belegen demnach einen positiven prädiktiven Zusammenhang zwischen frühen Vokalisationen und späterer Sprachproduktion.

Fazit

Die vorliegenden Befunde verdeutlichen die Relevanz kindlicher Vokalisationen, die bereits in der ersten Hälfte des ersten Lebensjahres auftreten, für spätere Sprachentwicklungsschritte. Diese Erkenntnis kann im Rahmen früher Präventions- und Interventionsprogramme im ersten Lebensjahr bei der Erkennung und Vorbeugung atypischer Sprachentwicklungsverläufe Berücksichtigung finden [11], [12], [13].


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