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37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 18.09.2021, digital

Pädaudiologische Versorgung bei Langer-Giedion-Syndrom

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Anne K. Läßig - Abteilung Kommunikationsstörungen, HNO-Klinik Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Lisa Große - Abteilung Kommunikationsstörungen, Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Evgenia Martin - Abteilung Kommunikationsstörungen, Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Laura Holthöfer - MVZ Fachgebiet der Humangenetik der Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Oliver Bartsch - MVZ Fachgebiet der Humangenetik der Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Dimitrios Koutsimpelas - Hals-Nasen-Ohren-Klinik und Poliklinik, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Andrea Bohnert - Abteilung Kommunikationsstörungen, Klinik für HNO-Heilkunde, Universitätsmedizin Mainz, Mainz, Deutschland

37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). sine loco [digital], 17.-18.09.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. DocP13

doi: 10.3205/21dgpp28, urn:nbn:de:0183-21dgpp285

Veröffentlicht: 28. Oktober 2021

© 2021 Läßig et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die Prävalenz einer höhergradigen Mikrotie in der westlichen Bevölkerung wird mit 0,76–2,35 Fälle pro 10.000 Geburten angegeben, davon sind ca. 20–30% syndromaler Genese. Bei zusätzlicher kongenitaler Gehörgangsatresie wird bei einseitigem Vorliegen oft an ein Goldenhar-Syndrom oder bei beidseitiger Fehlbildung an ein Franceschetti-Syndrom gedacht. Bei zusätzlichen Dysmorphiezeichen, insbesondere dem Vorliegen von Spaltbildungen des Gaumens und Skelettfehlbildungen, sollte eine humangenetische Untersuchung zur Ursachenklärung angestrebt werden.

Material und Methoden: Wir berichten über einen bei Erstvorstellung 7,7 Jahre alten Jungen syrischer nicht konsanguiner Eltern, der uns bei klinischem Verdacht auf Franceschetti-Syndrom zur pädaudiologischen Diagnostik und Optimierung der technischen Versorgung der Schwerhörigkeit vorgestellt wurde. Die Schwangerschaft und Geburt seien in Syrien unauffällig verlaufen. Das 7. Kind der Eltern wies deutliche Dysmorphiezeichen auf: Ohrmuscheldysplasie III°, vollständige Gehörgangsatresie bds., Z.n. operativem Verschluss einer Gaumenspalte im 2. Lebensjahr, dreieckige Gesichtsform mit spitzem, ausgeprägtem Unterkiefer, langes breites, akzentuiertes Philtrum, schmales Oberlippenrot, kräftige Nase mit breitem Nasenrücken, Epicanthus links, nach außen abfallende Lidachsen, lange gebogene Wimpern, sehr bauschige Augenbrauen, Zahnfehlstellungen, multiple Exostosen v.a. am proximalen rechten Oberarm, linken Schulterblatt, distalen linken Unterarm, mehreren Rippen, distalen Femur, deutliche Mikrocephalgie (<1. P.), proportionierter Minderwuchs und Dystrophie, prämature Pubarche, nicht altersgerechte Sprachentwicklung bei sukzessivem Zweispracherwerb Arabisch/Deutsch, Intelligenzminderung. Anamnestisch wurde auch berichtet, dass die motorische Entwicklung verzögert war (Sitzen: 24 Monate, Laufen: 3 Jahre, erste Worte: mit 3 Jahren). Es bestand im Alter von ca. 2–3 Jahren eine Knochenleitungshörgeräteversorgung über Softband, die verloren ging. In der pädaudiologischen Diagnostik bestätigte sich ein kompletter Schallleitungsblock bds., der zunächst nach vergleichender Erprobung mit einem Knochenleitungssystem über Softband versorgt wurde. Aufgrund des kleinen Hirnschädels verrutschte diese Versorgung oft, so dass eine Ankopplung über SoundArc sowie die Erprobung eines geklebten Systems und im Anschluss die erfolgreiche Versorgung mit einem aktiven Knochenleitungsimplantat bds. erfolgte. Neben der präoperativen Bildgebung (CT Felsenbein, MRT Schädel) erfolgte eine weiterführende logopädische Diagnostik, Intelligenztestung, Hormon- und Knochenalterbestimmung sowie humangenetische Diagnostik.

Ergebnisse: In der Karyotypisierung mittels genomweiter SNP-Array-Analyse bestätigte sich bei dem Jungen ein Mikrodeletionssyndrom auf Chromosom 8q23.3q24.11, welches 12 Gene umfasst, auch Langer-Giedion-Syndrom oder Tricho-rhino-phalangeales Syndrom Typ 2 genannt (OMIM-Nummer: 150230, ICD 10 Q87.8G, autosomal dominant).


Text

Einleitung

Die Prävalenz einer höhergradigen Mikrotie in der westlichen Bevölkerung wird mit 0,76–2,35 Fälle pro 10.000 Geburten angegeben, davon sind ca. 20–30% syndromaler Genese. Bei zusätzlicher kongenitaler Gehörgangsatresie wird differenzialdiagnostisch bei einseitigem Vorliegen an ein Goldenhar-Syndrom oder bei beidseitiger Fehlbildung an ein Franceschetti-Syndrom gedacht. Bei zusätzlichen Dysmorphiezeichen, insbesondere dem Vorliegen von Spaltbildungen des Gaumens und Skelettfehlbildungen sollte eine humangenetische Untersuchung zur Ursachenklärung angestrebt werden.

Material und Methoden

Wir berichten über einen bei Erstvorstellung 7,7 Jahre alten Jungen syrischer, nicht konsanguiner Eltern, der uns bei klinischem Verdacht auf Franceschetti-Syndrom zur pädaudiologsichen Diagnostik und Optimierung der technischen Versorgung der Schwerhörigkeit vorgestellt wurde. Die Schwangerschaft und Geburt seien in Syrien unauffällig verlaufen. Klinische Unterlagen waren bei der Flucht verloren gegangen. Das 7. Kind der Eltern wies folgende deutliche Dysmorphiezeichen auf:

  • Ohrmuscheldysplasie III°
  • vollständige Gehörgangsatresie bds.
  • Gaumenspalte mit Z.n. operativem Verschluss im 2. Lebensjahr
  • dreieckige Gesichtsform mit spitzem, ausgeprägtem Unterkiefer
  • langes breites, deutlich akzentuiertes Philtrum
  • schmales Oberlippenrot
  • kräftige Nase mit breitem Nasenrücken
  • angedeuteter Epicanthus links
  • nach außen abfallende Lidachsen
  • lange gebogene Wimpern
  • sehr bauschige Augenbrauen
  • Zahnfehlstellungen mit großen oberen Schneidezähnen
  • multiple Exostosen (Osteochondrome) am proximalen rechten Oberarm, linken Schulterblatt, distalen linken Unterarm, mehreren Rippen, distalen Femur
  • deutliche Mikrocephalgie (<1. P.)
  • proportionierter Minderwuchs (Länge und Größe <1.P), Dystrophie (BMI 12,3)
  • prämature Pubarche
  • Sprachentwicklungsstörung schwersten Grades bei Mehrspracherwerb Arabisch, sukzessiv Deutsch und DGS-Angebot
  • Rhinophonia aperta
  • Intelligenz im unteren Durchschnittsbereich
  • rechtsseitige Herzhypertrophie mit pathologischem Rechtsschenkelblock

Anamnestisch bestand eine motorische Entwicklungsverzögerung mit freiem Sitzen im Alter von 2 Jahren, freies Laufen mit 3 Jahren, erste Worte mit 3 Jahren. Es bestand im Alter von ca. 2–3 Jahren eine Knochenleitungshörgeräteversorgung über Softband, die auf der Flucht verloren ging. In Deutschland erfolgte die Wiederversorgung mit Knochenleitungshörgeräten im Alter von 4 Jahren. Zudem wurden rezidivierende Fieberkrämpfe in den ersten 5 Lebensjahren beobachtet, die bis zu einer Schilddrüsenoperation bestanden. Der Junge besuchte 3 Jahre einen deutschsprachigen Kindergarten mit Integrationsmaßnahme und wurde in eine Schwerhörigenschule eingeschult. Er erhielt nach einem MDK-Gutachten ab dem Alter von 3,11 Jahren zunächst einen Pflegegrad 4 und einen GdB von 80.

In der pädaudiologischen Diagnostik bestätigte sich ein kompletter Schallleitungsblock bds. (Abbildung 1 [Abb. 1]), der zunächst nach vergleichender Erprobung mit Knochenleitungssystemen bds. über Softband versorgt wurde. Aufgrund der Mikrocephalie verrutschte diese Versorgung oft, so dass eine Ankopplung über SoundArc sowie die Erprobung eines geklebten Systems erfolglos versucht wurde.

In einem CT Felsenbein fanden sich eine mit Sekret verlegte Paukenhöhle rechts > links mit rechts rudimentärem, fixiertem Incus und fehlender Abgrenzbarkeit der übrigen Gehörknöchelchen bei abgrenzbarem, eher kleinem ovalem Fenster rechts und links abgrenzbarem Incus und Stapes mit Fusion bzw. Fixation des Incus an der Paukenhöhlenwand links und dysplastischem Malleus bei regelrechtem ovalem Fenster und unauffälliger Darstellung der Cochlea bds., jedoch Pneumatisationshemmung des Mastoids bds. (Grad II nach Altmann links und Grad III rechts) und relativem Hochstand des Bulbus venae jugularis rechts. Um eine langfristig suffiziente Versorgung der Schwerhörigkeit zu ermöglichen, erfolgte eine Versorgung mit einem aktiven Knochenleitungsimplantat bds. (BCI 602). Neben der präoperativen Bildgebung inkl. MRT Schädel erfolgte eine weiterführende logopädische Diagnostik (TROG-D Rohwert 2, PR keine Angabe, WWT Abbruch, AWST-R orientierend für 5,0–5,5-Jährige bei Lebensalter von 7,2 Jahren von Rohwert 6, PR 0, syntaktische-morphologische Störung schwersten Grades), Intelligenztestung mittels CPM mit einem IQ von 98 im Alter von 7,7 Jahren sowie CPM-P (Raven Parallelform) mit einem IQ von 82, PR 12 mit erwartungskonformer Verteilung im Alter von 8,02 Jahren, einen CFT-20 mit einem IQ von 102, PR 54 im Alter von 8,6 Jahren. Die visuelle Wahrnehmung zeigte sich im FEW 2 deutlich eingeschränkt (Globale visuelle Wahrnehmung PR 1, Motorik-reduzierte Wahrnehmung PR 8, Visuo-motorische Integration PR 0). Zusätzlich erfolgte eine humangenetische Diagnostik, Hormon- und Knochenalterbestimmung mit Feststellung eines um 6 Monate reduzierten Knochenalters.

Ergebnisse

In der Karyotypisierung mittels genomweiter SNP-Array-Analyse bestätigte sich bei dem Jungen ein Mikrodeletionssyndrom auf Chromosom 8q23.3q24.11, welches 12 Gene umfasst, u.a. TRPS2 und EXT1, auch Langer-Giedion-Syndrom oder Tricho-rhino-phalangeales Syndrom Typ 2 genannt (OMIM-Nummer: 150230; ICD 10 Q87.8G, autosomal dominant, oft sporadisch) [1]. Die Chromosomenanalyse und Hörstörungs-Panel-Untersuchung ergaben unauffällige Befunde. Typisch für die syndromale Erkrankung sind die primär gutartigen an Anzahl und Größe zunehmenden Osteochondrome bis zum Abschluss des Knochenwachstums, die selten (bis zu 5%) bösartig werden können. Neben der pädaudiologischen Behandlung ist eine kinderorthopädische Betreuung unerlässlich.

Es zeigte sich mit dem aktiven implantierten Knochenleitungssystem (BCI 602) ein besserer sprachaudiometrischer Gewinn als mit der geklebten Variante, insbesondere bei 55 und 65 dB. Die Audioprozessoren werden auch deutlich länger getragen mit einer Nutzungsdauer von tgl. 10 Stunden (laut DataLogging). Das Softband wurde zuvor kaum akzeptiert.


Literatur

1.
Lüdecke HJ, Johnson C, Wagner MJ, Wells DE, Turleau C, Tommerup N, Latos-Bielenska A, Sandig KR, Meinecke P, Zabel B, Horsthemke B. Molecular definition of the shortest region of deletion overlap in the Langer-Giedion syndrome. Am J Hum Genet. 1991;49(6):1197-206.