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37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 18.09.2021, digital

Beidseitiges Vestibularisschwannom als Ursache einer kindlichen Hörstörung

Poster

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  • corresponding author presenting/speaker Antonia Nolte - Uniklinik Köln, Köln, Deutschland
  • Martin Otte - Uniklinik Köln, Köln, Deutschland
  • Gitta Pantel - Uniklinik Köln, Köln, Deutschland
  • Ruth Lang-Roth - Uniklinik Köln, Köln, Deutschland

37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). sine loco [digital], 17.-18.09.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. DocP11

doi: 10.3205/21dgpp26, urn:nbn:de:0183-21dgpp269

Veröffentlicht: 28. Oktober 2021

© 2021 Nolte et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Gutartige Neubildungen im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels als Ursache einer neu aufgetretenen, einseitigen Hörstörung zählen mit einer Inzidenz von 1:100000 und einem Altersgipfel zwischen dem 30.–50. Lebensjahr zum Alltag eines HNO-Facharztes, jedoch sind sie in einer Phoniatrie und Pädaudiologie eher eine Seltenheit. Grundsätzlich sprechen wir bei Erstdiagnose einer insbesondere einseitigen Schwerhörigkeit die Empfehlung zu einem c-MRT aus, hingegen weisen wir häufig nicht auf eine Dringlichkeit hin.

Material und Methoden: In unserer Sprechstunde stellte sich ein 7-jähriges Mädchen mit neu aufgetretener einseitiger Hörminderung und Gleichgewichtsproblemen nach einem Sturz vom Trampolin vor. Mehrere Wochen nach dem Sturz sei der Mutter während eines Telefonates eine Hörminderung links aufgefallen. Ein Ohrgeräusch wurde von der Patientin nicht angegeben. Im Rahmen der Untersuchung zeigte sich ebenfalls ein auffälliges Gangbild, als auch ein leichter Schiefhals. Die allgemeine Entwicklung und das Neugeborenenhörscreening waren unauffällig.

Ergebnisse: In der Tonaudiometrie wurde rechts eine periphere Normakusis und links eine Hörschwelle mit schwankenden Angaben zwischen 40 und 60 dB angeben. Die otoakustischen Emissionen (TEOAE und DPOAE) waren beidseits in allen Frequenzen nachweisbar, sodass wir die Verdachtsdiagnose einer retrocochleären Hörstörung stellten. Eine Vestibularisdiagnostik ergab eine peripher vestibuläre Funktionsstörung beidseits.

Diskussion: Aufgrund der o.g. Befunde leiteten wir ein zeitnahes cMRT in die Wege. Hier zeigten sich intra- und extrameatal wachsende, bilaterale 3–4cm große Raumforderungen im Kleinhirnbrückenwinkel mit konsekutivem Hydrocephalus occlusus. Aus der Radiologie wurde die Patientin bei den Kollegen der Neurochirurgie vorgestellt, welche zunächst die linke Raumforderung resezierten. Das histologische Ergebnis ergab ein Vestibularisschwannom WHO Grad I. Eine postoperative BERA-Untersuchung bestätigte mit auffälligen Interpeaklatenzen I-III und I-V und verzögerten Wellen III und V die retrocochleäre Hörstörung.

Fazit: Bei neu auftretenden Hörstörungen einhergehend mit Gleichgewichtsproblemen sollte auch bei Kindern immer eine zeitnahe c-MRT erfolgen um Raumforderungen wie z.B. Vestibularisschwannome als Ursache zeitnah zu diagnostizieren.


Text

Hintergrund

Gutartige Neubildungen im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels als Ursache einer neu aufgetretenen, einseitigen Hörstörung zählen mit einer Inzidenz von 1:100 000 und einem Altersgipfel zwischen dem 30.–50. Lebensjahr zum Alltag eines HNO-Facharztes, jedoch sind sie in einer Phoniatrie und Pädaudiologie eher eine Seltenheit [1]. Grundsätzlich sprechen wir bei Erstdiagnose einer insbesondere einseitigen Schwerhörigkeit die Empfehlung zu einem c-MRT aus, hingegen weisen wir häufig nicht auf eine Dringlichkeit hin.

Material und Methoden

Es stellte sich ein 7-jähriges Mädchen mit neu aufgetretener einseitiger Hörminderung und Gleichgewichtsproblemen nach einem Sturz vom Trampolin vor. Mehrere Wochen nach dem Sturz sei der Mutter während eines Telefonates eine Hörminderung links aufgefallen. Ein Ohrgeräusch und Schwindel wurden von der Patientin nicht angegeben. Es seien zuvor Vorstellungen bei mehreren HNO-Fachärzten erfolgt, da diese die Hörstörung nicht sicher diagnostizieren konnten. Im Rahmen der Untersuchung zeigte sich ebenfalls ein auffälliges Gangbild, als auch ein leichter Schiefhals. Die allgemeine Entwicklung und das Neugeborenenhörscreening waren unauffällig.

Ergebnisse

In der Tonaudiometrie wurde rechts eine periphere Normakusis und links eine Hörschwelle mit schwankenden Angaben zwischen 40 und 60 dB angeben (Abbildung 1 [Abb. 1], Abbildung 2 [Abb. 2]).

Die otoakustischen Emissionen (TEOAE und DPOAE) waren beidseits in allen Frequenzen nachweisbar, sodass wir die Verdachtsdiagnose einer retrocochleären Hörstörung stellten. Unter der Frenzelbrille zeigten sich weder Spontan- noch Provokationsnystagmen. In der Kalorik waren beide Gleichgewichtsorgane thermisch nicht erregbar und die Posturographie war auffällig. In Zusammenschau der Vestibularisdiagnostik ergab sich somit eine peripher vestibuläre Funktionsstörung beidseits.

Aufgrund der o.g. Befunde leiteten wir ein zeitnahes cMRT in die Wege. Hier kamen intra- und extrameatal wachsende, bilaterale 3–4cm große Raumforderungen im Kleinhirnbrückenwinkel mit konsekutivem Hydrocephalus occlusus zur Darstellung. Aus der Radiologie wurde die Patientin direkt bei den Kollegen der Neurochirurgie vorgestellt. Es erfolgte wenige Tage später die retromastoideale Resektion der linken Raumforderung. Das histologische Ergebnis ergab ein Vestibularisschwannom (VS) WHO Grad I.

Eine phoniatrisch-pädaudiologische Untersuchung vier Wochen postoperativ ergab eine periphere Normakusis beidseits im Tonaudiogramm. Im Sprachaudiogramm bestand links eine 75% Einsilber-Verständlichkeit bei 50 dB, 90% bei 65 dB und 100% bei 80 dB. Jedoch war die Kontroll-BERA weiterhin mit auffälligen Interpeaklatenzen I-III und I-V und verzögerten Wellen III und retrocochleär auffällig. Die cortikale Verarbeitung war mit gut synchronisierten und unauffällig konfigurierten SAEP-Mustern (1 kHz) bei 80 dB HL links unauffällig. Postoperativ war die Hirnnervenfunktion unauffällig. Ein Katarakt als auch Hauttumoren konnten ausgeschlossen werden. Nach den klinisch diagnostischen Kriterien von Ardem-Holmes et al. besteht bei beidseitigem VS klinisch eine Neurofibromatose Typ 2 (NF2) [2]. Eine humangenetische Untersuchung wurde eingeleitet. Ein Ergebnis liegt zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vor.

Diskussion

Uni- und Bilaterale VS sind charakteristische Läsionen bei einer autosomal dominant vererbten NF2, welche auf einer Mutation im NF2-Gen Chromosom 22q12 beruht. Zusätzlich können bei einer NF2 Schwannome an anderen zentralen, spinalen und peripheren Nerven als auch Meningeome, Ependymome und Gliome auftreten. Des Weiteren kann eine NF2 mit einer reduzierten Sehschärfe, einem Katarakt und Hauttumoren einhergehen. Obwohl Schwannome gutartige Tumore sind, gehen sie jedoch bei einer NF2 aufgrund von Kompression des Hirnstammes, Hör- und Sehverlust, Lähmungen und Krampfanfällen mit einer erhöhten Morbidität einher.

Typische Symptome bei Erwachsenen mit einem VS sind bekannterweise Tinnitus, Schwindel und Hörverlust. Das Erscheinungsbild bei Kindern ist jedoch deutlich variabler. In über 50% der Fälle treten die ersten Symptome erst in der Adoleszenz auf, sodass es häufig zu einer erheblichen Verzögerung der Diagnosestellung kommt [3]. Es werden bei Neurofibromatose Typ 2 nur 10% der Kinder vor dem 10. und 18% vor dem 15. Lebensjahr diagnostiziert [4]. Die Therapie der Wahl bei symptomatischen Patienten ist bisher die chirurgische Resektion, um weitere irreversible Schäden durch Kompression zu verhindern, birgt aber das Risiko einer Ertaubung. In den letzten Jahren wurden mehrere Studien zur medikamentösen Therapie mit dem monoklonalen Antikörper Bevacizumab, welcher gegen den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor gerichtet ist, durchgeführt. Es zeigte sich eine Größenreduktion der VS, die mit einer Hörverbesserung einhergehen kann [5]. Aufgrund einhergehender Nebenwirkungen wie Infertilität sollte die Indikation kritisch gestellt werden. Da Bedenken bezüglich einer Entartung der Tumore durch eine Gamma-Knife-Bestrahlung geäußert werden, rückt diese Therapieoption in den Hintergrund.

Fazit

Neu auftretende Hörstörungen im Kindes- und Jugendalter bedürfen einer differenzierten pädaudiologischen Abklärung. Dies beinhaltet bei inkongruenten Befunden die Durchführung einer Hirnstammaudiometrie zur Abklärung einer zentralen Hörstörung und zeitnahes c-MRT, um Raumforderungen wie z.B. VS frühzeitig zu diagnostizieren. Kinder mit NF2 bedürfen einer regelmäßigen pädaudiologischen Begleitung.


Literatur

1.
Guntinas-Lichius O, Klußmann JP, Lang S. Referenz HNO-Heilkunde. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme Verlag; 2021.
2.
Ardern-Holmes S, Fisher G, North K. Neurofibromatosis Type 2. J Child Neurol. 2017;32(1):9-22. DOI: 10.1177/0883073816666736 Externer Link
3.
Evans DG, Birch JM, Ramsden RT. Paediatric presentation of type 2 neurofibromatosis. Arch Dis Child. 1999;81(6):496-9. DOI: 10.1136/adc.81.6.496 Externer Link
4.
Evans DG, Huson SM, Donnai D, Neary W, Blair V, Newton V, Harris R. A clinical study of type 2 neurofibromatosis. Q J Med. 1992;84(304):603-18.
5.
Plotkin SR, Merker VL, Halpin C, Jennings D, McKenna MJ, Harris GJ, Barker FG 2nd. Bevacizumab for progressive vestibular schwannoma in neurofibromatosis type 2: a retrospective review of 31 patients. Otol Neurotol. 2012;33(6):1046-52. DOI: 10.1097/MAO.0b013e31825e73f5 Externer Link