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37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 18.09.2021, digital

Therapieverlauf bei Kindern mit einer Sprachentwicklungsstörung während der COVID-19-Pandemie

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Berit Hackenberg - Unimedizin, Mainz, Deutschland
  • Matthias Büttner - Unimedizin, Mainz, Deutschland
  • Lisa Große - Unimedizin, Mainz, Deutschland
  • Evgenia Martin - Unimedizin, Mainz, Deutschland
  • Dahlia Cordier - Unimedizin, Mainz, Deutschland
  • Christoph Matthias - Unimedizin, Mainz, Deutschland
  • Anne K. Läßig - Unimedizin, Mainz, Deutschland

37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). sine loco [digital], 17.-18.09.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. DocP10

doi: 10.3205/21dgpp19, urn:nbn:de:0183-21dgpp195

Veröffentlicht: 28. Oktober 2021

© 2021 Hackenberg et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Das neuartige SARS-CoV-2-Virus breitete sich seit Dezember 2019 weltweit aus und die damit einhergehende Infektion (COVID-19) wurde zur Pandemie erklärt. Um das Infektionsgeschehen zu unterbrechen, wurden in Deutschland zahlreiche Maßnahmen getroffen, die das öffentliche und soziale Leben weitreichend einschränkten. Hierzu zählte auch die Schließung von Kindergärten und Schulen im März bis Mai 2020 (sog. Lockdown). Hiervon waren auch Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung (SES) betroffen.

Material und Methoden: Von August bis November 2020 wurden Eltern von Kindern mit einer SES zum Therapieverlauf ihres Kindes während des Lockdowns befragt. In einem Fragebogen wurden allgemeine Informationen erfragt (Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen, Anzahl der Geschwister, gesprochene Sprachen) sowie Angaben zum Therapieverlauf vor und während der Pandemie gemacht.

Ergebnisse: 37 der eingeschlossenen Kinder erhielten vor der Pandemie eine logopädische Therapie. Bei 17 Kindern wurde die Therapie während des Lockdowns pausiert, während 20 Kinder weiterhin Logopädie erhielten. Hiervor erhielten die meisten Patienten (70%) Logopädie mit erhöhten Hygienemaßnahmen. Ein Patient (5%) setzte die Therapie telemedizinisch fort. Die restlichen fünf Patienten (25%) erhielten Logopädie ohne Veränderung oder besondere Hygienemaßnahmen. Die multivariate logistische Regression zeigte, dass Kinder, welche zu Hause eine andere Sprache als Deutsch sprechen, eine höhere relative Chance hatten, dass ihre Therapie während des Lockdowns pausiert wurde (Odds Ratio 5,11; 95%-Konfidenzintervall 1,09; 32,54). Das Alter, das Geschlecht oder das Vorliegen anderer Erkrankungen hatten keinen statistisch signifikanten Einfluss auf das Pausieren der Logopädie.

Diskussion: SARS-CoV-2 wird vor allem durch Aerosole beim Husten und Sprechen übertragen, so dass eine logopädische Behandlung am Patienten durchaus als gefährdend eingestuft werden muss. Da Kinder mit einer SES ab dem Kindergartenalter besonders empfänglich für eine Therapie sind, kann das Pandemie-bedingte Pausieren dieser Therapie einen nachhaltig negativen Einfluss auf ihre Entwicklung haben. Diese Studie konnte zeigen, dass es während des Lockdowns kein gemeinsames Konzept gab, wie eine Sprachtherapie während der Pandemie fortzusetzen ist. Zudem erscheinen Barrieren zur Inanspruchnahme einer Therapie in der Krise verstärkt, so dass Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, eher benachteiligt waren.

Fazit: Um auch für zukünftige Pandemien und die damit verbundenen Einschränkungen vorbereitet zu sein, müssen wir die Inanspruchnahme von logopädischer Therapie in der Krisensituation besser verstehen. Soziale Barrieren können sich hierbei noch verstärken, so dass benachteiligte Kinder weiter in ihrer Entwicklung zurückfallen können.


Text

Hintergrund

Das neuartige SARS-CoV-2-Virus wurde im Dezember 2019 erstmals in China nachgewiesen und breitete sich seitdem weltweit aus. Drei Monate später, im März 2020, wurde die durch dieses Virus verursachte Infektion (COVID-19) zur weltweiten Pandemie erklärt [1]. Um das Infektionsgeschehen einzudämmen, wurden weitreichende Maßnahmen beschlossen, die das öffentliche Leben einschränkten und hierdurch Kontakte reduzierten. Dazu zählte auch die vorübergehende Schließung von Kindergärten und Schulen erstmals im März bis Mai 2020 (sog. Lockdown). Weiterhin wurde die medizinische Betreuung in vielen Kliniken, Praxen und weiteren Therapieeinrichtungen auf die Versorgung lebensbedrohlich Erkrankter reduziert. Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung (SES) waren hiervon besonders betroffen und teilweise gezwungen, ihre Therapie zu pausieren.

Durch die physiologische Sprachentwicklung ergibt sich ein sensibles Zeitfenster, in dem betroffene Kinder besonders empfänglich für eine Therapie sind [2], [3]. Ein temporäres Aussetzen der Sprachtherapie in diesem Alter kann negative Folgen für die Entwicklung des Kindes haben [4], [5]. Leider wurden keine strukturierten Aussagen zum Umgang mit entwicklungsfördernder Therapie für betroffene Kinder zum o.g. Zeitpunkt des Lockdowns getroffen [6], [7].

Das Ziel dieser Studie war es daher, zu beschreiben, wie die logopädische Therapie während des Lockdowns durchgeführt wurde.

Material und Methoden

Die Studie erfolgte von August bis November 2020 prospektiv in der Abteilung für Kommunikationsstörungen der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik der Universitätsmedizin Mainz. Eltern von Kindern, bei denen eine SES diagnostiziert wurde und die sich ambulant oder stationär vorstellten, wurden nach schriftlicher Aufklärung und Einwilligung in die Studie eingeschlossen und mittels Fragebogen zum Therapieverlauf ihrer Kinder während des Lockdowns befragt. Im Teil 1 des Fragebogens wurden allgemeine Informationen zum Kind, seinem Gesundheitszustand und häuslichen Umfeld erfragt (Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen, Anzahl der Geschwister, gesprochene Sprachen). In einem zweiten Fragebogenteil (Teil 2) wurde der Ablauf der logopädischen Therapie vor und während des ersten Lockdowns erfragt. „Lockdown“ wurde hierbei definiert als Zeitraum größtmöglicher Einschränkungen im Alltag, beginnend mit der Schließung von Bildungseinrichtungen (16. März 2020 in Rheinland-Pfalz) und endend mit der schrittweisen Wiedereröffnung der Schulen (Mai 2020).

In der statistischen Auswertung wurden einzelne Merkmale entsprechend ihrer Verteilung als Mittelwerte oder Prozentwerte angegeben. Zudem erfolgte eine multivariate logistische Regression, um Faktoren zu identifizieren, die mit einem Aussetzen der Sprachtherapie assoziiert waren. Die statistische Analyse erfolgte mit R (R Statistical Computing, Version 3.6.3).

Ergebnisse

37 der eingeschlossenen Kinder erhielten vor der Pandemie eine logopädische Therapie. Bei 17 Kindern wurde die Therapie während des ersten Lockdowns pausiert, während 20 Kinder weiterhin Logopädie erhielten. Hiervon erhielten die meisten Patienten (70%) Logopädie mit erhöhten Hygienemaßnahmen. Ein Patient (5%) setzte die Therapie telemedizinisch fort. Die restlichen fünf Patienten (25%) erhielten Logopädie ohne Veränderung oder besondere Hygienemaßnahmen. Die multivariate logistische Regression zeigte, dass Kinder, welche zu Hause eine andere Sprache als Deutsch nutzen, eine höhere relative Chance hatten, dass ihre Therapie während des Lockdowns pausiert wurde (Odds Ratio 5,11; 95%-Konfidenzintervall 1,09; 32,54). Das Alter, das Geschlecht oder das Vorliegen anderer Erkrankungen hatten keinen statistisch signifikanten Einfluss auf das Pausieren der Logopädie.

Diskussion

SARS-CoV-2 wird vor allem durch Aerosole beim Husten und Sprechen übertragen, so dass direkter zwischenmenschlicher Kontakt und hierdurch auch eine logopädische Behandlung am Patienten als gefährdend eingestuft werden muss [8], [9]. Diese Studie zeigt, dass es kein allgemeines Konzept gab, wie die Sprachtherapie im Kindesalter während des ersten Lockdowns fortzuführen war. Kinder, deren Sprachtherapie unterbrochen wurde und solche, die keine Therapiepause erfahren mussten, waren gleichmäßig verteilt. Selbst bei fortgesetzter Therapie schien ein gemeinsames Konzept zu möglichen hygienischen Maßnahmen zu fehlen. Auch wenn Telemedizin schon vor der Pandemie als effektives Instrument in der Patientenversorgung galt, wurde diese in unserem Patientenkollektiv nur bei einem Kind durchgeführt [10]. Darüber hinaus wurde die Sprachtherapie bei Kindern, die familiär kein Deutsch sprachen, eher pausiert. Dies könnte eine Barriere in der Gesundheitsversorgung sein, welche sich in einer Krise wie der Pandemie verstärkt. Es bedarf jedoch weiterer Studien, um Barrieren im Zugang zur Sprachtherapie im Kindesalter in Deutschland weiter zu untersuchen.

Fazit

Diese Studie konnte zeigen, dass es während des Lockdowns kein gemeinsames Konzept gab, wie eine Sprachtherapie während der Pandemie fortzusetzen ist. Zudem erscheinen Barrieren zur Inanspruchnahme einer Therapie in der Krise verstärkt, so dass Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprachen, eher benachteiligt waren.


Literatur

1.
WHO. Director-General’s opening remarks at the media briefing on COVID19. [last accessed 2021 Mar 04]. Available from: https://www.who.int/director-general/speeches/detail/who-director-general-s-opening-remarks-at-the-media-briefing-on-covid-19---11-march-2020 Externer Link
2.
May-Mederake B. Early intervention and assessment of speech and language development in young children with cochlear implants. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2012;76(7):939-46. DOI: 10.1016/j.ijporl.2012.02.051 Externer Link
3.
Nicholas JG, Geers AE. Effects of early auditory experience on the spoken language of deaf children at 3 years of age. Ear Hear. 2006;27(3):286-98. DOI: 10.1097/01.aud.0000215973.76912.c6 Externer Link
4.
Bishop DV, Adams C. A prospective study of the relationship between specific language impairment, phonological disorders and reading retardation. J Child Psychol Psychiatry. 1990;31(7):1027-50. DOI: 10.1111/j.1469-7610.1990.tb00844.x Externer Link
5.
Weir E, Bianchet S. Developmental dysfluency: early intervention is key. CMAJ. 2004;170(12):1790-1. DOI: 10.1503/cmaj.1040733 Externer Link
6.
Tohidast SA, Mansuri B, Bagheri R, Azimi H. Provision of speech-language pathology services for the treatment of speech and language disorders in children during the COVID-19 pandemic: Problems, concerns, and solutions. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2020;138:110262. DOI: 10.1016/j.ijporl.2020.110262 Externer Link
7.
Williams PCM, Howard-Jones AR, Hsu P, Palasanthiran P, Gray PE, McMullan BJ, Britton PN, Bartlett AW. SARS-CoV-2 in children: spectrum of disease, transmission and immunopathological underpinnings. Pathology. 2020;52(7):801-8. DOI: 10.1016/j.pathol.2020.08.001 Externer Link
8.
Anfinrud P, Stadnytskyi V, Bax CE, Bax A. Visualizing Speech-Generated Oral Fluid Droplets with Laser Light Scattering. N Engl J Med. 2020;382(21):2061-3. DOI: 10.1056/NEJMc2007800 Externer Link
9.
Asadi S, Wexler AS, Cappa CD, Barreda S, Bouvier NM, Ristenpart WD. Aerosol emission and superemission during human speech increase with voice loudness. Sci Rep. 2019;9(1):2348. DOI: 10.1038/s41598-019-38808-z Externer Link
10.
Wales D, Skinner L, Hayman M. The Efficacy of Telehealth-Delivered Speech and Language Intervention for Primary School-Age Children: A Systematic Review. Int J Telerehabil. 2017;9(1):55-70. DOI: 10.5195/ijt.2017.6219 Externer Link