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37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 18.09.2021, digital

Pädiatrische Dysphagiediagnostik – Status quo und Zukunftsperspektiven

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Julie Nienstedt - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
  • author Jana Zang - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
  • author Till Flügel - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
  • author Jana-Christiane Koseki - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
  • author Almut Nießen - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
  • author Susan Hyoungeun Kim - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
  • author Christina Pflug - Klinik und Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland

37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). sine loco [digital], 17.-18.09.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. DocV25

doi: 10.3205/21dgpp16, urn:nbn:de:0183-21dgpp163

Veröffentlicht: 28. Oktober 2021

© 2021 Nienstedt et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Dysphagien im Kindesalter sind keine Seltenheit und führen zu Beeinträchtigungen von Gesundheit, kognitiver Entwicklung und Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien. Trotz steigender Prävalenz und großem Bedarf an Diagnostik und Therapie existieren weder allgemeingültige Definitionen noch Diagnostikstandards und Klassifikationen für diese Patientengruppe.

Material und Methoden: Ziel dieser Studie war es daher, die in unserem universitären Dysphagiezentrum erhobenen Daten aus pädiatrischen Schluckuntersuchungen auszuwerten, um den zukünftigen Bedarf an standardisierten Verfahren zu ermitteln. Analysiert wurden 152 Untersuchungen von 128 Kindern im Alter von 22 Tagen bis 18 Jahren, die zwischen 2015 und 2020 zur flexibel-endoskopischen Evaluation des Schluckens (FEES) in unserer Klinik vorgestellt wurden. Mittels binär logistischer Regression wurde der Zusammenhang zwischen Dysphagien und Grunderkrankungen untersucht.

Ergebnisse: Bei über der Hälfte der Kinder (n=69) wurde eine oropharyngeale Dysphagie diagnostiziert. Dabei erhöhte das Vorhandensein einer Grunderkrankung die Wahrscheinlichkeit signifikant (OR 13,0; 95% CI 3,66–46,65; p=,00), insbesondere bei genetischen Syndromen (OR 2,60; 95% CI 1,15–5,88) und neurologischen Störungen (OR 4,23; 95% CI 1,31–13,69). Die FEES konnte bei allen Kindern komplikationslos durchgeführt werden. Allerdings zeigten sich erhebliche Variationen in der Durchführung und Dokumentation.

Diskussion: Um in Zukunft eine bessere Vergleichbarkeit zu ermöglichen, bedarf es standardisierter Verfahren und definierter Auswertungskriterien in der pädiatrischen Dysphagiediagnostik. Folgeprojekte unserer Arbeitsgruppe sind geplant, um entsprechende Protokolle zu entwickeln und zu evaluieren.

Fazit: Nur so gelingt es, eine Basis für valide wissenschaftliche Studien zu schaffen und eine fundierte Leitlinie für kindliche Dysphagie zu definieren.


Text

Hintergrund

Eine Dysphagie im Kindesalter hat Auswirkungen auf die Gesundheit sowie die allgemeine und kognitive Entwicklung [1], [2]. Die einhergehende Minderung der Lebensqualität betrifft dabei auch die Angehörigen. Mögliche Komplikationen wie Malnutrition, Dehydratation und Aspirationspneumonien können lebensbedrohlich werden. Dennoch sind Kinder in der Dysphagie-Forschung deutlich unterrepräsentiert [3] und trotz eines hohen Bedarfs an interdisziplinärer Diagnostik mangelt es an standardisierten Vorgehensweisen [4], [5]. Die flexibel-endoskopische Evaluation des Schluckens (FEES) gilt in Deutschland als Goldstandard [6] und Modifikationen des Standardprotokolls nach Langmore [7] sind bereits für Kinder publiziert [8]. Bewertungsskalen wie die Penetrations-Aspirationsskala (PAS) nach Rosenbek wurden allerdings bisher nicht validiert. Ziel der durchgeführten Studie war eine kritische Analyse der innerhalb von 5 Jahren dokumentierten Schluckuntersuchungen bei Kindern in unserer Klinik, um einen Status quo zu ermitteln und den Bedarf für zukünftige Standardisierung aufzudecken. Ferner sollte der Zusammenhang zwischen der Diagnose „Dysphagie“ und der Grunderkrankung evaluiert werden.

Material und Methoden

Es erfolgte eine retrospektive Analyse der dokumentierten Daten von 128 Kindern, die zwischen 2015 und 2020 zur Dysphagiediagnostik in unserer Klinik vorgestellt wurden. Aus der elektronischen Patientenakte wurden die Daten der logopädisch klinischen Schluckuntersuchung und der FEES extrahiert und statistisch ausgewertet. Es erfolgte die deskriptive Darstellung von Stichprobe und Befunden und eine binär logistische Regression (SPSS 27- IBM) zur Analyse eines Zusammenhangs von Dysphagie und Grunderkrankung.

Ergebnisse

In allen Altersgruppen von 22 Tagen bis 18 Jahren (M=5,5±5,5; 45% weiblich) war die FEES sicher und komplikationslos durchführbar. Neun Untersuchungen mussten bei fehlender Indikation, Choanalstenose oder Abwehr abgebrochen werden, so dass abschließend 143 FEES an 119 Kindern in die Analyse einflossen (einige Mehrfachkonsultationen). Die einzelnen Schluckuntersuchungen wurden an Lebensalter und Compliance individuell angepasst. Alle Endoskopien erfolgten nach Abschwellen und Anästhesie der Nasenschleimhaut mit Xylometazolinhydrochlorid und Lidocain Gel (2%) mittels dünnem flexiblen Videolaryngoskop (ENF-V3, Olympus, Ø 2,6 mm). Je nach im Alltag praktizierter Haltung war die Position des Kindes hierbei aufrecht bis liegend. Auch die verabreichten, grün gefärbten Nahrungsboli waren in Konsistenz, Größe und Darreichungsform dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst. Wie auch der Ablauf folgten die Befundung und die Dokumentation der FEES keinen einheitlichen Schemata. Die Beurteilung von Anatomie und Funktion erfolgte soweit möglich in Anlehnung an das FEES-Protokoll von Langmore [7]. Aus den Befundberichten ließ sich in nur 31 Fällen ein PAS-Wert (Median=1, 1–8) extrahieren. Weitere relevante Pathologien wie Residuen, Leaking, Verzögerung des Schluckreflexes und laryngeale Sensibilität waren lediglich inkonsequent dokumentiert (Tabelle 1 [Tab. 1]).

Insgesamt wurde bei 69 Kindern eine oropharyngeale Dysphagie auf Grundlage der aus der FEES resultierenden Schluckpathologien diagnostiziert. Dabei erhöhte das Vorliegen einer Grunderkrankung das Chancenverhältnis für eine Dysphagie deutlich (OR 13,0; 95% CI 3,66–46,65), insbesondere bei genetischen Syndromen (OR 2,60; 95% CI 1,15–5,88) und neurologischen Störungen (OR 4,23; 95% CI 1,31–13,69). Von den 25 Kindern ohne Grunderkrankung hatten über die Hälfte den Verdacht einer isolierten Fütterstörung. Die logopädisch klinische Schluckuntersuchung variierte in Umfang, Zeitpunkt der Durchführung und dokumentierten Items jedoch so erheblich, dass eine statistische Auswertung und damit auch Analyse der oralen Phase nicht möglich war.

Diskussion

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die FEES auch in jungem Alter komplikationslos durchführbar ist und eine verlässliche, zudem strahlungsfreie instrumentelle Diagnostik des Schluckvermögens ermöglicht. Insbesondere in Kombination mit der klinischen Schluckuntersuchung ist sie eine umfassende und aussagekräftige Diagnostikmethode der kindlichen Dysphagie. Definierte Bewertungsstandards fehlen jedoch bei Kindern und lassen sich nicht einfach von Erwachsenen übertragen. So offenbart unsere Datenanalyse, dass die Durchführung der pädiatrischen Dysphagiediagnostik sowohl klinisch als auch instrumentell stark variierte, und insbesondere die Dokumentation sehr lückenhaft war. Auch international liegen bislang keine einheitlichen Protokolle und Bewertungsskalen für das Kindesalter vor. Das mag zum einen an der Komplexität des Störungsbildes und fehlenden Definitionen liegen, zum anderen existieren kaum Normdaten für das kindliche Schlucken. Der Bedarf an Standards, die zeitgleich Raum für die erforderliche individuelle Untersuchung des kindlichen Schluckens bieten, ist hoch.

Fazit

Um in Zukunft eine bessere Vergleichbarkeit der pädiatrischen Patientenkollektive zu ermöglichen, bedarf es der Definition von Referenzwerten sowie von standardisierten Verfahren und Auswertungskriterien in der klinischen und videoendoskopischen Dysphagiediagnostik von Kindern. Folgeprojekte unserer Arbeitsgruppe sind geplant, um entsprechende Protokolle zu entwickeln und zu evaluieren. Nur so gelingt es, eine Basis für valide wissenschaftliche Studien zu schaffen und eine fundierte Leitlinie für kindliche Dysphagie zu definieren.


Literatur

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Craig GM. Psychosocial aspects of feeding children with neurodisability. Eur J Clin Nutr. 2013;67 Suppl 2:S17-20. DOI: 10.1038/ejcn.2013.226 Externer Link
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Langmore SE, Schatz K, Olsen N. Fiberoptic endoscopic examination of swallowing safety: a new procedure. Dysphagia. 1988;2(4):216-9. DOI: 10.1007/BF02414429 Externer Link
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Miller CK, Willging JP. Fiberoptic Endoscopic Evaluation of Swallowing in Infants and Children: Protocol, Safety, and Clinical Efficacy: 25 Years of Experience. Ann Otol Rhinol Laryngol. 2020;129(5):469-81. DOI: 10.1177/0003489419893720 Externer Link
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Zang J, Nienstedt JC, Koseki JC, Nießen A, Flügel T, Kim SH, Pflug C. Pediatric Flexible Endoscopic Evaluation of Swallowing: Critical Analysis of Implementation and Future Perspectives. Dysphagia. 2021:1-7. DOI: 10.1007/s00455-021-10312-5 Externer Link