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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Expertenurteil im Vergleich zur Selbsteinschätzung bei strukturellen Dysphagien und Veränderungen durch eine phoniatrische onkologische Rehabilitation

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocP21

doi: 10.3205/19dgpp70, urn:nbn:de:0183-19dgpp701

Veröffentlicht: 13. September 2019

© 2019 Keilmann et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Patient*innen, die wegen eines Malignoms im Bereich von Kopf und Hals behandelt wurden, leiden häufig posttherapeutisch unter Schluckstörungen. Wegen dieser und anderer physischer Funktionseinschränkungen, aber auch der psychischen Belastung wird häufig eine Anschlussrehabilitation oder onkologische Rehabilitation durchgeführt. Wir untersuchten, inwieweit die subjektive Einschätzung des Schluckvermögens durch die Betroffenen und die Experteneinschätzung durch eine phoniatrische onkologische Rehabilitation verändert werden.

Material und Methoden: Von 178 Betroffenen, die im Anamnesegespräch bei der Aufnahme eine Dysphagie angaben, wurde zu Beginn und am Ende der 3-wöchigen Reha der EAT-10 ausgefüllt und die Dysphagie wurde von ärztlicher und logopädischer Seite anhand der Bogenhausener Dysphagie-Skala eingeschätzt. Die Daten von 113 Männern und 63 Frauen im mittleren Alter von 63,2+10,7 (Mittelwert + Standardabweichung) Jahren konnten verwertet werden. Alle erhielten eine komplexe, interdisziplinäre Diagnostik und Therapie (ärztlich/logopädisch/psychologisch/sport-, physio- und ergotherapeutisch sowie Lymphdrainagen, Inhalationen).

Ergebnisse: Die Selbsteinschätzung im EAT-10 verbesserte sich im Mittel von 19,53+10,74 auf 16,41+11,03, die Expertenbeurteilung entsprechend BoDS2 von im Mittel 4,4+2,0 auf 3,5+1,9. Während sich in der Expertenbeurteilung gleichbleibende Bewertungen oder Verbesserungen ergaben, schätzten sich 42 von 178 Patient*innen am Ende der Reha schlechter ein als am Anfang, häufig aber nur um einen von 40 möglichen Punkten.

Diskussion: Der Vergleich der Selbsteinschätzung im EAT-10 und der Expertenbeurteilung entsprechend BoDS2 zeigte sowohl zu Beginn als auch am Ende der Reha nur eine mäßige Korrelation. Bei der Einschätzung der Veränderung ergab sich eine bessere Übereinstimmung.

Fazit: Zur Beurteilung sollten daher regelmäßig beide Parameter herangezogen werden.


Text

Einleitung

Trotz bedeutsamer Fortschritte in der Therapie von Malignomen im Bereich von Kopf und Hals führt die Behandlung bei fast allen Betroffenen zu kurz- und langfristigen Funktionseinbußen, die Aktivitäten und Teilhabe gravierend beeinträchtigen. Für viele Betroffene stellt die als Folge der Therapie auftretende Schluckstörung die gravierendste Auswirkung dar [1].

Material und Methoden

138 Männer und 81 Frauen im mittleren Alter von 62,8 (+10,1), die überwiegend nach der Therapie einer Tumorerkrankung an Kopf und Hals an einer Schluckstörung litten, schätzen zu Beginn und am Ende der 3-wöchigen Rehabilitationsbehandlung mit Hilfe des Eating Assessment Tools (EAT-10; [2]) die Schwere ihre Schluckschwierigkeiten ein. Außerdem beurteilten die behandelnden Ärzt*innen die Beeinträchtigung bei der Nahrungsaufnahme zu beiden Zeitpunkten entsprechend der Bogenhausener Dysphagie-Skala (BODS-2, [3]). Zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen beiden Maßen wurde Kendalls Tau-b herangezogen. Der Unterschied zwischen Anfangs- und Endmessung wurde mit einem Vorzeichentest bzw. einem t-Test für abhängige Stichproben geprüft.

Ergebnisse

Sowohl im Expertenurteil als auch in der Selbsteinschätzung gab die Mehrzahl der Betroffenen am Ende der Rehabilitationsbehandlung eine Besserung ihrer Schluckprobleme an (BODS-2: n=131 Personen, 59,8%; EAT-10: n=132, 60,3%). Diese Verbesserungen waren hoch signifikant (p<0,001). Im Expertenurteil ließ sich nur bei zwei Personen (0,9%) eine Verschlechterung feststellen. In der Selbsteinschätzung berichteten 60 Personen von einer subjektiven Verschlechterung ihres Zustandes (27,4%, vgl. Tabelle 1 [Tab. 1]). Kendalls tau-b zwischen Werten des BODS-2 und des EAT-10 betrugen 0,39 für die Anfangsmessung, 0,43 für die Endmessung und 0,42 über beide Messzeitpunkte hinweg (alle p<0,001). Jedoch waren nur bei 103 (47,0%) der untersuchten Personen die Einstufungen identisch, bei 35 (16,0%) sogar gegensätzlich. Kendalls tau-b zwischen den durch die beiden Messinstrumente erfassten Veränderungen betrug lediglich 0,11, und war nicht statistisch signifikant. Gemäß dem Vorzeichentest liefert der BODS-2 eine statistisch signifikant (p<0,05) positivere Beurteilung der Entwicklung zwischen Anfangs- und Endmessung als das EAT-10.

Diskussion

Im Rahmen unserer Untersuchung konnten wir bei der großen Mehrzahl der Betroffenen eine relevante Verbesserung des Schluckens nach Abschluss der Rehabilitationsbehandlung erreichen, nicht selten von einer ausschließlich enteralen oder parenteralen Ernährung auf eine ausschließlich orale Ernährung. Bei den zwei Betroffenen mit Verschlechterung im BODS-2 war der Tumor progredient. Unveränderte Befunde fanden sich vor allem bei sehr schwer betroffenen Patient*innen und vielen, die schon vor Jahrzehnten bestrahlt worden waren.

In unserer Untersuchung konnten wir die Schluckprobleme mittels Expertenurteil (BODS-2) und Selbsteinschätzungen (EAT-10) operationalisieren. Beide Maße korrelierten mäßig miteinander. Während sich manche Betroffene schon durch mäßige Einschränkungen, z.B. bezüglich der Konsistenz, stark beeinträchtigt fühlen, geben andere bei einer ausschließlich über die PEG möglichen Ernährung nur geringe Einschränkungen an. Für die ungünstigere Beurteilung durch die Betroffenen im Vergleich zum Expertenurteil könnte ursächlich sein, dass sich Betroffene bei Einschränkungen der oralen Ernährung zu Hause vorwiegend von Nahrungsmitteln angepasster Konsistenz oder nur bestimmter Geschmacksrichtungen ernährt und dies noch wenig reflektiert hatten, sodass erst das breitere Angebot von nicht mehr gewöhnten Speisen in der Reha die Einschränkungen deutlicher machte. Auch der Austausch und der Vergleich in der Gruppe der Betroffenen mag hierzu beigetragen haben.

Während traditionell überwiegend Expertenurteile erhoben wurden, rückt die Bedeutung von „patient reported outcome“, PRO, immer deutlicher in den Blickwinkel, sie gehören z.B. in Medikamentenstudien laut U.S. Food and Drug Administration oder dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu unverzichtbaren Parametern. Bezüglich der inhaltlich verwandten Stimmstörungen ist schon lange bekannt, dass die Selbsteinschätzung nur gering mit objektiven Stimmgüteparametern korreliert [4], [5]. In einer Untersuchung an Patient*innen mit Kopf-Hals-Tumoren zur Verbesserung der Stimme und der Aussprache durch eine 10-wöchige Rehabilitation ergab sich auch nur eine schwache Korrelation zwischen den Expertenurteilen und der Selbsteinschätzung [6].

Schlussfolgerung

Durch eine dreiwöchige onkologische Rehabilitation wird das Schluckvermögen verbessert, sowohl aus der Sicht von Experten als auch in der Selbsteinschätzung mittels EAT-10. Beide Parameter zeigten aber nur eine mäßige Korrelation. Zur Beurteilung sollten daher regelmäßig beide Parameter herangezogen werden.


Literatur

1.
Nilsen ML, Mady LJ, Hodges J, Wasserman-Wincko T, Johnson JT. Burden of treatment – Reported outcomes in a head and neck cancer survivorship clinic. Laryngoscope. 2019 Jan 15. DOI: 10.1002/lary.27801 Externer Link
2.
Zaretsky E, Steinbach-Hundt S, Pluschinski P, Grethel I, Hey C. Validierung der deutschen Version des Eating Assessment Tool bei Kopf-Hals-Tumor-Patienten. Laryngo-Rhino-Otologie. 2018;97(7):480-6. DOI: 10.1055/a-0596-7780 Externer Link
3.
Hartmann U, Bartolome G, Schröter-Morasch H. Klinische Evaluation von Dysphagien: Der Bogenhausener Dysphagiescore (BODS) – Entwicklung und Validierung. Vortrag bei der 23. Wissenschaftlichen Jahrestagung der DGPP. Heidelberg, 15.–17.09.2006. Verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2006/06dgpp37.shtml Externer Link
4.
Ptok M, de Maddalena H. Subjektive und objektive Stimmevaluation nach Kehlkopfteilresektion. Laryngorhinootologie. 1990;69:356-94.
5.
van Sluis KE, van der Molen L, van Son RJJH, et al. Objective and subjective voice outcomes after total laryngectomy: a systematic review. Eur Arch Otorhinolaryngol. 2018;275:11-26. DOI: 10.1007/s00405-017-4790-6 Externer Link
6.
van der Molen L, van Rossum MA, Jacobi I, et al. Pre- and posttreatment voice and speech outcomes in patients with advanced head and neck cancer treated with chemoradiotherapy: expert listeners’ and patient’s perception. J Voice. 2012;26:664.e25-33. DOI: 10.1016/j.jvoice.2011.08.016 Externer Link