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36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

19.09. - 22.09.2019, Göttingen

Erste Ergebnisse der Mukosarekonstruktion im Tiermodell mittels eines neuartigen Formgedächtnispolymers

Vortrag

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  • author presenting/speaker Dorothee Rickert - Phoniatrie, Pädaudiologie, Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Marienhospital, Stuttgart, Deutschland
  • corresponding author Helmut Steinhart - Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Marienhospital, Stuttgart, Deutschland
  • author Andreas Lendlein - Helmholtz-Zentrum Geesthacht, Institut für Biomaterialforschung, Teltow, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 36. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Göttingen, 19.-22.09.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. DocV19

doi: 10.3205/19dgpp28, urn:nbn:de:0183-19dgpp287

Veröffentlicht: 13. September 2019

© 2019 Rickert et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die Verfügbarkeit polymerer Biomaterialen, die hochspezifisch an anatomische, physiologische und chirurgische Anforderungen angepasst werden können, erfährt wachsende Bedeutung bei der Entwicklung neuer therapeutischer Optionen in verschiedenen Bereichen der Medizin. Bioabbaubare, stimuli-sensitive Implantatmaterialien haben dabei großes Anwendungspotenzial, insbesondere im Bereich der rekonstruktiven Chirurgie. Die Pharynxrekonstruktion mit einem polymeren Biomaterial wäre eine neuartige Therapieoption in der onkologischen Kopf-Halschirurgie, insbesondere wenn durch eine rasche und vollständige Integration des Materials in das umgebende Gewebe das Risiko einer Fistelbildung minimiert werden könnte.

Material und Methoden: In dieser prospektiven Studie wurde ein kovalentes Polymernetzwerk zur Rekonstruktion eines im Durchmesser 10 mm großen durchgreifenden Gewebedefektes in die Magenwand von Sprague-Dawley Ratten implantiert. Durch die Implantation in die Magenwand sollten die chemische Stabilität und die Degradationseigenschaften des Copolymers unter extremen enzymatischen, chemischen und mechanischen Bedingungen untersucht werden. In der Kontrollgruppe wurde die Magenwand primär ohne Biomaterialimplantation verschlossen. Die Explantation erfolgte nach 1 Woche, 4 Wochen und 6 Monaten. Ein wichtiger klinischer Parameter war die Dichtigkeit zwischen dem implantierten Polymer und der umgebenden Magenwand.

Ergebnisse: Der intra- und postoperative Verlauf war bei allen operierten Tieren (n=63) komplikationslos. Die Untersuchung der Dichtigkeit, eines Adhäsionsindexes und der mikrobiologischen Parameter ergab keine signifikanten Unterschiede zwischen der Polymer- und der Kontrollgruppe.

Diskussion: Weitere Untersuchungen zur Biokompatibilität und -funktionalität sowie Methoden zur Oberflächenmodifizierung der Polymersystems zur Induktion der Angiogenese und einer Optimierung der Gewebeintegration sind derzeit Gegenstand aktueller Untersuchungen. In einem nächsten Schritt ist der Einsatz des polymeren Biomaterials zur Mukosarekonstruktion im Kopf-Halsbereich im Großtiermodell geplant.

Fazit: Um die funktionellen Aspekte bei der Entwicklung neuartiger Therapieoptionen in der onkologischen Kopf-Halschirurgie adäquat zu berücksichtigen, sollte die Phoniatrie von Beginn an in das interdisziplinäre Forschungsprojekt eingebunden sein.


Text

Hintergrund

Die klinische Anwendung von polymer-basierten Implantatmaterialien steht in der Kopf-, Halschirurgie im Gegensatz zu anderen chirurgischen Fächern erst am Anfang. In den letzten Jahren sind große Fortschritte in der Entwicklung multifunktionaler, polymer-basierter Biomaterialien für Anwendungen in der Regenerativen Medizin erzielt worden. Eine zentrale Rolle nehmen dabei neuartige Biomaterialien ein, die bioinstruktiv sind und so eine Autoregeneration modulieren können. Die Verfügbarkeit polymerer Biomaterialien, die hochspezifisch an anatomische, physiologische und chirurgische Anforderungen angepasst werden können, erfährt wachsende Bedeutung bei der Entwicklung neuer therapeutischer Optionen insbesondere im Bereich der rekonstruktiven Chirurgie.

In der onkologischen Kopf-Halschirurgie sind wir mit einer zunehmenden Anzahl an HPV-induzierten Karzinomen auch bei jüngeren Patienten konfrontiert. Die Anforderungen an die Therapie von Seiten der Patienten insbesondere in Bezug auf die funktionellen Einbußen haben sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Nach der tumorchirurgischen Resektion von ausgedehnten Tumoren ist eine Defektdeckung z.B. mittels Hautmuskellappen notwendig, die i.d.R. mit funktionellen Einbußen bezüglich der verbalen Kommunikation und des Schluckens assoziiert sind. Die Pharynxrekonstruktion mit einem polymeren Biomaterial wäre eine neuartige Therapieoption in der onkologischen Kopf-Halschirurgie, insbesondere wenn durch eine rasche und vollständige Integration des Materials in das umgebende Gewebe das Risiko einer Fistelbildung minimiert werden könnte.

Material und Methoden

In einer prospektiven Studie wurde ein langzeitresorbierbares, elastisches Copolymernetzwerk aus Poly(Ɛ-caprolacton)dimethacrylat und n-Butylacrylat zur Rekonstruktion eines im Durchmesser 10 mm großen durchgreifenden Gewebedefektes in die Magenwand von Sprague-Dawley Ratten implantiert. Die Sterilisation der Polymers erfolgte mit Ethylenoxid. Durch die Implantation in die Magenwand sollte die chemische Stabilität und die Degradationseigenschaften des Copolymers unter extremen enzymatischen, chemischen und mechanischen Bedingungen untersucht werden. Die Tierversuche wurden im Rahmen eines vom Regierungspräsidium Tübingen genehmigten Tierversuchsantrages (Versuchs-Nr. 729) durchgeführt. Als Tiermodell wurden 84 männliche Sprague-Dawley Ratten vom Wildtyp (Charles River, Sulzfeld, Deutschland) verwendet. Die Versuchstiere wurden durch eine 2:1 Randomisierung einer Implantat-Gruppe, einer Kontroll- und einer Baseline-Gruppe zugeordnet. Bei den Tieren der Implantatgruppe wurde ein durchgreifender, standardisierter Magenwanddefekt gesetzt, der mit 10 mm im Durchmesser großen und 200 µm dicken Polymernetzwerkproben verschlossen wurde. In der Kontrollgruppe wurde der Defekt primär ohne Materialimplantation verschlossen. Die Tiere der Baselinegruppe wurden unter identischen Bedingungen ohne Biomaterialimplantation gehalten. Die Implantations- bzw. Versuchsdauer betrug 1 Woche, 4 Wochen und 6 Monate.

Ergebnisse

Der intra- und postoperative Verlauf war bei allen operierten Tieren (n=63) komplikationslos. Im Tiermodell konnte die flüssigkeitsdichte Integration eines langzeitresorbierbaren AB-Copolymernetzwerks in die umgebende Magenwand der Versuchstiere gezeigt werden. Gastrointestinale Komplikationen wie Fisteln, Perforationen oder Peritonitiden traten innerhalb der untersuchten Versuchszeiträume (1 Woche, 4 Wochen und 6 Monate) bei keinem der Tiere der Implantatgruppe (n=42) oder der Kontrollgruppe (n=21) mit primärem Wundverschluss ohne Biomaterialimplantation auf. Sowohl in der Implantat- als auch in der Kontrollgruppe war makroskopisch und histologisch nach 1- und 4-wöchiger sowie 6-monatiger Implantations- bzw. Versuchsdauer ein regulärer Wundheilungsverlauf nachweisbar. Die intragastrale Druckmessung nach Explantation mit maximaler Aufdehnung des Magens (Abbildung 1 [Abb. 1]) ergab keine statistisch signifikanten Differenzen in der Implantat-, der Kontroll- und der Baselinegruppe an den drei untersuchten Zeiträumen. Die Dichtigkeit des Nahtverschlusses zwischen dem Polymer und dem umgebenden Gewebe war bei allen Tieren der Implantatgruppe nachweisbar (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Diskussion

In der Studie konnte die chemische, hydrolytische und enzymatische Stabilität sowie die biomechanische Funktionalität des polymeren Implantatmaterials unter den Extrembedingungen des Magenmilieus gezeigt werden. Die intragastrale Dichtigkeitsmessung und der fehlende Nachweis postoperativer, gastrointestinaler Komplikationen legen nahe, dass das abbaubare, elastische Copolymernetzwerk im untersuchten Versuchszeitraum keine Wundheilungsstörungen induzierte, sondern die Geweberegeneration unterstützte. In weiterführenden Untersuchungen müssen die Mechanismen, die der Integration des Biomaterials in das umgebende Gewebe zugrunde liegen sowie die Polymerdegradation und der Prozess des Geweberemodelings analysiert werden.

Fazit/Schlussfolgerung

In einem nächsten Schritt ist die Anwendung der Copolymernetzwerke zur Rekonstruktion des oberen ADT zunächst im Tiermodell erfolgen. Im Rahmen der Zulassungsprüfung wäre dann der Einsatz der Materialien in ersten klinischen Studien denkbar.

Die Regenerative Medizin gehört derzeit national und international zu den Gebieten mit der stärksten Entwicklungsdynamik. Dieses Gebiet ist gekennzeichnet durch eine große Zahl verschiedener Fachgebiete und Technologiefelder, die eingebunden und zusammengeführt werden müssen, um innovative Problemlösungen zu finden. Die Beteiligung der Kliniker sollte nicht – wie bisher – erst am Ende eines langen Entwicklungsprozesses stattfinden, sondern von Beginn der Entwicklung und Etablierung neuartiger Therapieoptionen an, da primär Kliniker die Impulse für die Notwendigkeit neuartiger Therapieansätze und deren Anpassung an die klinischen Erfordernisse geben können.


Literatur

1.
Lendlein A, Schmidt AM, Langer R. AB-polymer networks based on oligo(ɛ-caprolactone) segments showing shape-memory properties. PNAS. 2001;98:842-7.
2.
Rickert D, Lendlein A, Schmidt AM, Kelch S, Roehlke W, Fuhrmann R, Franke RP. In vitro cytotoxicity testing of AB-polymer networks based on oligo(epsilon-caprolactone) segments after different sterilization techniques. J Biomed Mater Res B Appl Biomater. 2003;67(2):722-31.
3.
Lendlein A, Behl M, Hiebl B, Wischke C. Shape-memory polymers as a technology platform for biomedical applications. Expert Review of Medical Devices. 2010;7:357-79.